Es wird Zeit! Es ist ernst!

Gedanken zum Reformationsjubiläum


von Enno Ehlers
Der folgende Artikel bekam seine Grundgestalt am Martinstag 2016.


Martin von Tours wurde im Jahre 316 geboren. Nach dem Heiligenkalender der katholischen Kirche wird seiner am 11. November gedacht. Martin Luther wurde am 10. November 1483 geboren und am nächsten Tag getauft. Sein Namenspatron wurde Martin, der Sitte gemäß. Die beiden trennten 1167 Jahre. Es einte sie ihr gemeinsamer Name und der Ernst, mit dem sie zu glauben und zu leben versuchten.


Martin von Tours ließ sich im Alter von 18 Jahren, wohl gegen den Willen seines Vaters, taufen. Die Nächstenliebe Jesu, von der ihm erzählt wurde, hatte ihn innerlich getroffen und gewandelt. Obwohl Christen zu seiner Zeit keine Soldaten sein sollten, diente er noch in einem römischen Reiterregiment. Die Legende erzählt, dass ihm ein frierender Bettler gegenübertrat. Dieser jammerte sein. (So hätte es sein späterer Namensvetter Luther ausgedrückt). Er nahm sein Schwert und teilte seinen Mantel in zwei Hälften. Die eine Hälfte legte er dem Bettler um die Schulter. Seine Kameraden lachten über ihn und mahnten: „So verschleuderst du das Eigentum des Kaisers?!“ Martin: „Aus einem habe ich zwei gemacht. Das ist die Mathematik der Christen.“ In der Nacht hatte er eine Christus-Vision. Er hörte: „Martin, gestern hast du mich bekleidet.“ Er gab den Soldatenberuf auf und wurde Eremit. Er betete lange, heilte Kranke, die zu ihm kamen, tröstete und sogar Tote soll er zum Leben erweckt haben. Sein Ruf verbreitete sich. Andere Menschen lebten mit ihm in mönchischer Gemeinschaft zusammen. Er sollte Bischof der gallischen Stadt Tours werden. Aber öffentliche Ämter bedeuteten ihm nichts. Er floh – in einen Gänsestall. Das laute Geschnatter der Tiere hat sein Versteck verraten. Auch dies eine schöne, Wahrheit offenbarende Legende. (Seitdem kennt das christliche Abendland die Martinsgans). Er konnte dem Willen des Volkes nicht widerstehen und wurde zum Bischof geweiht. Martin von Tours wurde Begründer des abendländischen Mönchtums, das eine gar nicht zu überschätzende Wirkung in Europa und darüber hinaus entfaltete. Im Jahre 400 starb dieser hochverehrte und außergewöhnliche Mann, dessen Gerechtigkeitssinn und Liebe zum Volk, vor allem zu den Armen, von seinen Bischofskollegen durchaus nicht immer geschätzt wurden.


Martin Luther, das ist nun wohl wieder allgemeines Wissensgut, war ein Mönch, ein äußerst streng lebender. Aber das Klosterwesen hatte sich von den Inspirationen seines Gründervaters Martin von Tours und anderer Väter weitgehend fortentwickelt. Klöster und die Kirche waren um ihrer selbst willen da. Weil es sie gab, musste es sie geben. Die Rituale und die darin gebrauchten Formeln waren zwar von imposanter Selbstgenügsamkeit, wurden nur noch von Wenigen verstanden, sprachlich wie inhaltlich. Es entstand das Wort Hokuspokus für Unverstandenes. Hinzu kam, dass die Strukturen der Kirche von den Macht- und Repräsentationsgelüsten des Adels fast vollständig ausgehöhlt waren. Papstwahlen waren in der Zeit der Renaissance erbitterte Machtkämpfe und Bestechungsorgien zwischen mächtigen Familien – nichts sonst. Die Besetzungen von Bischofsstühlen waren ebenso von politischen wie finanziellen Überlegungen der Fürsten gesteuert. Kirchliche Ämter wurden u.a. zur Versorgung des edlen Nachwuchses gekauft. Dazu kam die Erfindung des ebenfalls zu kaufenden Ablasses als munter fließende Geldquelle für repräsentative Bauten, die Bezahlung von Landsknechten und anderes mehr. Das sollte noch die Kirche Jesu Christi sein? Luthers berühmte und von so Wenigen nur gelesenen Thesen waren noch der Versuch eines zur Bescheidenheit erzogenen Mönches, die Dinge doch einmal zu diskutieren. Aber es ist in ihnen schon zu erkennen: Es ist ernst! Und es wird Zeit!


Was Luther dann im Laufe seines Lebens in einer großen Anzahl von Schriften zu sehr unterschiedlichen Themen verfasste, kann als eine lange Reihe von Bußrufen verstanden werden. Bis auf einige Ungeheuerlichkeiten, die er wohl auch später als solche erkannte, sind seine Texte zu einem guten Teil auch heute noch mit Gewinn zu lesen. Die Verhältnisse und das Denken müssten sich ändern und damit auch die Sprache. Hierfür hat er Grundlegendes geleistet. Er „schaute dem Volk aufs Maul“, ohne ihm auch nur im Geringsten nach dem Maul zu reden. Die rechte Sprache zu finden bereitete ihm große Mühe. Er wollte verstanden werden, damit Christus verstanden wird. Seine Bußrufe richtete er gleichermaßen nach außen wie auch an sich selber. Wer Buße predigt, muss sich ihr zuerst aussetzen. So, wie es sein Namenspatron viele Jahrhunderte vor ihm auch getan hatte in strenger Askese. Luthers Erlösung bestand nun nicht in einer Vision, sondern im Erkennen der Bedeutung einer Schriftstelle. Im psychologischen und geistlichen Sinn ein sehr ähnliches Phänomen: Eine Befreiung von sich selber – dem in sich gekrümmten Menschen, wie er sich selbst erkannte. (Es liegt eine große Tragik darin, dass sein theologisches Erkennen und entschiedenes Urteil dazu geführt hat, dass das Werk seines Namenspatrons, das europäische Mönchtum, in protestantischen Ländern sein Ende gefunden hat).


Bei den anstehenden Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum fehlt, so weit ich sehe, der kritische Blick auf sich selber in der evangelischen Kirche fast vollständig. Es ist eine Ironie der Kirchengeschichte, dass Papst Franziskus in dieser Zeit mit entschiedener Beharrlichkeit in seiner Kirche vorantreibt, wozu die Protestanten eigentlich seit ihrem Eintritt in die Geschichte aufgerufen sind. Hans Küng: „Die Protestanten verdienen ihren Namen nicht mehr“. Einzig die ökumenische Gemeinschaft im Reformationsjahr ist ein großer Fortschritt, wenn auch mit unrealistischen Gefühlswallungen und Erwartungen begleitet.


In (fast!) allem, was man lesen kann und hört, offenbart sich heute immer noch eine selbstgefällige Formelhaftigkeit der Sprache, eine theologische und intellektuelle Starrheit, die Grausen und Ärger erzeugt. Ebenso schwer ist die Häme zu ertragen, mit der Menschen, die die Kirche mittlerweile verlassen haben, aber immer noch einmal einen interessierten Blick wagen, die Selbstoffenbarungen der Kirche(n) überschütten. Theologie oder Kirche werden von vielen Zeitgenossen nicht mehr mit Weisheit und Menschenfreundlichkeit assoziiert, sondern schlicht für nicht notwendig gehalten. Nette Menschen trifft man auch an anderen Orten. An diesem öffentlichen Bild ist nicht nur die Kirche schuld – Medien verstehen sich immer mehr als Heilsanstalten – aber in einem nicht unerheblichen Maße auch.


Wenn ein Gottesdienst zur Eröffnung der EKD-Synode im vergangenem Herbst mit einer schwer zu überbietenden liturgischen und homiletischen Dürftigkeit imponiert, spricht das Bände und ist meilenweit entfernt von der heute noch mitreißenden Sprache des Reformators. Ein ständiges Lächeln (dem man als kirchlicher Insider sowieso nicht traut) und ein wenig zu groß geratene Brustkreuze der episkopalen Kollegenschaft sind zu wenig, um Kirche glaubwürdig zu repräsentieren. Ebenso die ständig vorgetragene Lauterkeit der eigenen Motive! Man ist unisono gegen Haß, Gewalt, Terror und die Ausgrenzung von Minderheiten in der großen Ökumene der Wohlmeinenden. Ach wie schön! Es ließe sich hier vieles konkretisieren, Beispiele für Engagement, die solches Gerede erst glaubwürdig machen, ließen sich eindrucksvoll erzählen und dann auch in Gemeinden organisieren. Wie soll das aber gehen in einer Kirche, deren Pastorinnen- & Pastorenverein sich ernsthaft Gedanken darüber macht, wie die angeblich zu große Arbeitsbelastung durch Arbeitszeitmodelle verringert werden kann? Man muss wohl nicht erst die Heroen der Kirchengeschichte aufrufen, die in der Regel unendlich fleißig waren, oder sich in der Ökumene umschauen, um zu erkennen, welch ein saturierter Haufe wir geworden sind. Das nächste Gehalt kommt ja. Zu viele Gedanken kreisen um die eigene Berufsgruppe. Ein kollektiver Solipsismus! Das trotzdem dargestellte Selbstbewusstsein steht allerdings häufig in einem diametralen Gegensatz zu den abgelieferten intellektuellen oder anderen Dienstleistungen. Mit häufig mittlerweile getragenen Stolen oder Priesterkrägen, von Männern eher bevorzugt als von Frauen, lässt sich das inhaltliche Grau nicht überdecken. Warum nur schielt man zur katholischen Kirche und leiht sich von dort Ausstattungsvarianten? Möchte man gerne das sein, was man bei uns nicht sein kann: Priester?


Es gilt: Selber denken macht fett! Wer beharrlich darauf verzichtet und nur Wohlfeiles produziert, begeht möglicherweise eine Sünde wider den Heiligen Geist. Zu den äußerst merkwürdigen und deprimierenden Erfahrungen meiner Amtszeit und auch später gehört die Erkenntnis, dass die meisten Theologen, denen ich begegnet bin, kein wirkliches Interesse an der Theologie zeigten. Öffentlichkeitsarbeit wirkte da häufig viel elektrisierender. Aber wirklich überzeugend sind diejenigen in der Kirche, Männer wie Frauen, die nicht nur Friedensliebhaber sondern vor allem Friedensmacher sind. Zum Glück gibt es davon eine ganze Menge. Die reden nicht zu viel, sie haben keine Zeit dazu. Und wenn sie reden, ist das erfahrungsgesättigt. Und wie eine Erlösung wirken dann doch auch längere oder kürzere Gedanken, die leider nur selten zu lesen oder zu hören sind.


Vor einigen Jahren erschien im Advent in der ZEIT ein Artikel mit der Überschrift: „Hört endlich auf zu quatschen!“. Gemeint waren evangelische Weihnachtspredigten. Und vor einiger Zeit erschien das Buch eines ehemaligen katholischen Theologiestudenten, der sich an seine Kirche wendet, mit dem Titel „Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt.“


Eine nachhaltige Wirkung dieser verzweifelten Aufschreie, so muss man sie wohl interpretieren, ist nicht zu erkennen. Ich bezweifle, dass sie auch nur zur Kenntnis genommen werden.

Dem Volk aufs Maul schauen meint gerade nicht „nach dem Maul reden“. Das Nachdenken über das Evangelium verlangt sehr viel mehr, als dass es uns vom „gelingenden Leben“ und ähnlichen eingängigen Flachheiten zu schwätzen erlaubte. Fast alle Predigten, die ich in den letzten Jahren gehört habe, ließen eine Auseinandersetzung mit dem Predigttext vermissen (Zitat: „Was fehlt, ersetze ich durch meinen Charme“). Man gibt sich peinlich seelsorgerisch, mit schlichten Erkenntnissen darüber, wie es um die menschliche Seele denn wohl bestellt sei. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass Fürbittengebete häufig eine düster gefärbte Ausmalung des seelischen Status der versammelten Christenschar beinhalten oder gar damit beginnen. Diese Diagnosen, zu denen man sich berechtigt glaubt, wird durch die Verwendung des Kollektivpronomens „wir“ auch noch als allgemein gültig deklariert. Die Aneinanderreihung von Floskeln oder biblischen Zitaten, auch in Gebeten und unnötig verlängerten Segensworten, ist weder Theologie noch Seelsorge. Das Urteil sei gewagt, es ist oft nichts anderes als der Ausdruck seelischer und intellektueller Faulheit. Und der Rekurs auf die eigene Einsicht durch die häufige Verwendung des Personalpronomens „ich“ verleiht dem Gesagten oder dem Geschriebenen weder Authentizität noch Tiefe.


Es ist leider so, dass die Sprache der Kirche mehr und mehr der einer Sekte gleicht. Die Spannung zwischen dem subjektiven Glauben einerseits und dem Anspruch auf eine das Subjektive übersteigende Wahrheit und Gültigkeit andererseits ist aber auszuhalten und ernsthaft zu bedenken. Theologie ist schließlich auch eine Wissenschaft! Wird sie aber auf dem Altar der Kreativität oder was man dafür hält (Taufe im Wattenmeer mit Shantychor und dokumentierender Presse, als ein niederschwelliges Angebot der Kirche deklariert!), und einer unpolitischen, humorlosen Innerlichkeit und geistigen Uniformität geopfert (Navid Kermani spricht von einer „uniformierten Individualität“), hat sie auch an den Universitäten nichts mehr zu suchen. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass man das Anliegen der Reformation völlig aus den Augen verliert: Die Erneuerung der Kirche, auf dass der Blick auf Christus nicht verstellt werde! Würde diese Reformation gewollt und in den menschlichen Maßen, die uns gesetzt sind, auch geschehen, würde auch die Gesellschaft dringend notwendige Impulse erhalten.


Wenn man im Jubiläumsjahr feiern will, kann man das ja auf die geplante Weise tun. Die Welt sieht dann: Seht her, da sind welche, die haben Luther. Darauf scheint es hinaus zu laufen. Warum aber ist nur von den anderen Reformatoren und Laien wie dem großartigen Bürgermeister von Nürnberg Jakob Sturm oder dem kursächsischen Kanzler Gregor Brück so wenig die Rede? Schließlich gab ihre Protestation, die auch heute noch gut zu bedenken ist und in Speyer auf dem Reichstag 1529 verlesen wurde, uns den Namen „Protestanten“, diejenigen, die für etwas einstehen, bekennen. Die Protestation ist ein Text, der nicht von Theologen verfasst wurde! Die Reformation war eben nicht nur das Werk von Theologen oder gar Luthers ureigenes Werk allein. Davon ist aber nur noch selten etwas zu hören oder zu spüren, leider auch im Jahr des Reformationsgedenkens nicht. Dass man fast nur von dem Wittenberger Reformator hört, passt in eine Zeit, in der man keine Scheu mehr davor verspürt, von Helden zu reden. Man hat sie wieder gern, die Großen. Aber wir beklagen ernstlich, dass es nur Luther, nicht aber auch Melanchthon, Bugenhagen und Zwingli in Plastik gepresst zu erwerben gibt.


Die Diakonie (Dienst!) und Menschenfreundlichkeit des Martin von Tours, mit ihm sei auch eine große Frau aus unseren Tagen genannt: Cicely Saunders, die Gründerin der Hospizbewegung, und der scharfe analytische Blick Luthers auf Gesellschaft und Kirche, und auf sich selbst, sollten in diesen Tagen inspirierend wirken. Es wird Zeit! Es ist ernst!