Der domestizierte Luther

oder: Von der Reformation zur Pastorenkirche

 

An eine Begebenheit aus den 70er Jahren erinnert sich Hanspeter Oschwald, langjähriger Vatikan-Korrespondent in seinem Buch „Auf der Flucht vor dem Kaplan“ (2011): In eine Versammlung von „überwiegend progressiven Katholiken“ zur Vorbereitung einer gemeinsamen Synode der deutschen Bistümer wurde der Antrag eingebracht, anhand eines vorbereiteten Papiers über Jesus zu sprechen. „Da stürmte plötzlich ein Kleriker im schwarzen Anzug nach vorne und sprach dem Katholikentreffen die Befähigung ab, über ein solches Papier zu diskutieren. Der Mann hieß Walter Kasper, Theologe, Hochschulprofessor und später römischer Kardinal.“

„Typisch katholisch“, so mag ein Protestant denken und meinen, dass es Vergleichbares in der evangelischen Kirche nicht geben ­könne. Weit gefehlt. Zur selben Zeit gab es einen durchaus vergleichbaren Vorgang: Die Gottes­dienstkommission der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche (VELKD) hatte den Zürcher Soziologen Gerhard Schmidtchen und das Institut für Demoskopie Allensbach mit einer empirischen Studie beauftragt. Deren Ziel: Erstellung eines repräsentativen Meinungsbildes der lutherischen Kirchenmitglieder über den Gottesdienst. Das hohe Maß an Abstinenz vom Kirchgang sollte ergründet werden.

Reichlich Gründe wurden auch gefunden und hätten eine weitgehende Reform bedeutet. Die Untersuchung blieb jedoch völlig folgenlos. Denn schon im Vorwort zur Veröffentlichung der Befragungsergebnisse stellte der Vorsitzende der Gottesdienstkommission, Theologieprofessor Manfred Seitz, klar, es gebe für die Auswertung einen „unerlässlichen Leitgesichtspunkt“, der laute: „Wo muss die Kirche den Bedürfnissen der Menschen entsprechen, und wo darf sie es nicht? Denn sie empfängt ihre Existenz und ihren Auftrag nicht von den theologisch reflektierten Bedürfnissen der Gesellschaft her, sondern von Gott, dem Herrn, der sich in Jesus Christus geäußert hat. Er geht auf die wahren Bedürfnisse seiner Geschöpfe und ihrer Sozietäten ein, und nur von ihm her sind sie letzten Endes richtig zu ermitteln“. Der Sprachgebrauch ist bemerkenswert. Es wird hier sogar die übliche Unterscheidung zwischen „der Kirche“ und ihren „Gläubigen“ verlassen. Letztere sind nur noch „die Menschen“. Der Ausdruck „die Gläubigen“ würde ja einen Rest von kirchlicher Kompetenz und Mitspracherecht immerhin noch andeuten. Nun aber ist völlig klargestellt, dass „die Kirche“ als Auftrags-Empfängerin Gottes ausschließlich aus ihren zum Pfarramt ordinierten Theologen besteht. 11 der 13 Mitglieder der Kommission der VELKD eignete folgerichtig dieser Status. ­Deren Gehälter und Spesen und die hohen Kosten der empirischen Erhebung wurden allerdings von den steuerzahlenden Kirchenmitgliedern getragen. Das Ernstnehmen ihrer inhaltlichen Anliegen aber wurde ihnen in ­keiner Weise zuteil. Nur der ordinierte Theo­loge vermag ja vom Auftrag Gottes her „die wahren Bedürfnisse seiner Geschöpfe ... letzten Endes richtig zu ermitteln“. Die Analogie zum römisch-katholischen Lehramtsanspruch ist mit Händen zu greifen.

„Evangelisch-Lutherisch“ lautet die Selbstbezeichnung der sich so darstellenden Kirche. Zum Pathos der theologischen Sonntagsreden, die in ihr gehalten werden, gehört es, das „Erbe der Reformation“ zu beschwören. Wie viel aber hat diese Kirche mit dem Reformator Martin Luther noch zu tun? Wie viel Luther ist wirklich drin in dem, was sich ausdrücklich als „lutherisch“ etikettiert? Wie verhält sich das etwa in Bezug auf das gerade dargestellte Beispiel einer konsequenten Pastorenkirche?

Reformationsjubiläen werden herkömmlich nach dem Jahr 1517 gerechnet, dem Jahr des Wittenberger Thesenanschlags Luthers gegen den Ablasshandel. Weit bedeutsamer für den Verlauf der Reformation ist jedoch das Jahr 1520. Luthers „reformatorische ­Hauptschriften“ erschienen in diesem Jahr und wurden folgenreich. Ganz besonders gilt das von dem Appell „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“. Nichts Geringeres will Luther mit dieser Schrift, als die Bastionen der „Romanisten“ schleifen, die sie sich mit bestimmten Behauptungen geschaffen haben. Mit der zum Beispiel, dass es ausschließlich dem Papst zustehe, die Heilige Schrift auszulegen. Oder mit der Behauptung, „weltliche Gewalt habe nicht Recht über sie, sondern wiederum: geistliche sei über die weltliche“.

Für Luther ist das „lauter erdichtete römische Vermessenheit“, der er seine Auffassung vom allgemeinen Priestertum aller Getauften entgegensetzt. Das liest sich so: „Man hat’s erfunden, dass Papst, Bischöfe und ­Klostervolk wird der geistliche Stand genannt. Fürsten, Herrn, Handwerks- und Ackerleute der weltliche Stand ... Doch niemand soll darob schüchtern werden ... Denn alle Christen sind wahrhaft geistlichen Standes, und ist unter ihnen kein Unterschied, denn des Amtes halben allein, wie Paulus 1.Korinther 12 sagt, dass wir allesamt ein Körper sind ... Dass aber der Papst oder Bischof salbet, Platten macht, ordiniert, weihet, anders denn Laien kleidet, mag einen Gleisner und Ölgötzen machen, macht aber nimmermehr einen Christen oder geistlichen Menschen. ... Und dass ich’s noch klarer sage: wenn ein Häuflein frommer Christen würde gefangen und in eine Wüstenei gesetzt, die nicht bei sich hätten einen von einem Bischof geweihten Priester, und erwählten einen unter sich, er wäre ehelich oder nicht, und beföhlen ihm das Amt, zu taufen, Messe zu halten, zu absolvieren und predigen, der wäre wahrhaftig ein Priester, als ob ihn alle Bischöfe und Päpste hätten geweihet.“

Das sakramentale Weihepriestertum als solches wird damit nicht reformiert, sondern demontiert, vollständig aufgehoben. Das ist wahrhaft revolutionär. Wo alle Priester sind, ist es keiner mehr. Und wo es keinen Priester mehr gibt, gibt es auch keine „Laien“ mehr. Weshalb Luther nun fragen kann: „Wird ein Priester erschlagen, so liegt ein Land im Interdikt; warum nicht auch, wenn ein Bauer erschlagen wird?“.

Luther hat mit dieser Position die deutschen Landesherren theologisch legitimiert, die im Argen liegenden Dinge der Kirche selbst in die Hand zu nehmen. Das zielte nicht auf Spaltung der Kirche. Sein Appell war auch an den Kaiser adressiert, das Symbol für die Einheit des Reiches. Der aber erwies sich als nicht ansprechbar. Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum wurde somit zur Grundlage für die Entstehung der Kirchen der Reformation. Zu Recht heißt es in einem Votum zur EKD-Synode vom November 2012: „Die Lehre vom allgemeinen Priestertum der Getauften stellt das
zentrale gesellschaftsverändernde Moment der reformatorischen Theologie dar. Sie ist die soziale Gestalt der Rechtfertigungslehre.“ Und weiter: „Dieser Impuls motiviert, das Zusammenleben in Kirche und Gesellschaft so zu gestalten, dass darin Freiheit gelebt werden kann“.

Was damit formuliert wird, hat jedoch den Charakter einer Wiederentdeckung. Denn Luthers revolutionärer Impuls wurde von der nach ihm sich benennenden Kirche keineswegs bewahrt. Die Frage, wie sich das allgemeine Priestertum aller und das einzelnen übertragene Pfarramt zueinander verhalten, wird in der Folge von den Amtsträgern im Sinne einer neuen Machtstruktur zu ihren Gunsten entschieden. So entspricht es zugleich am besten auch der Interessenlage der Landesherren als den Schutzmächten der evangelischen Kirche. Eine neue Schicht von privilegierten Amtsträgern nimmt Predigt und „Verwaltung“ der Sakramente exklusiv für sich in Anspruch. Lutherische Theologieprofessoren entwickeln im 19. Jahrhundert die dazu passenden Theologien. Der Kieler Propst und Verfasser einer Pastoraltheologie Claus Harms (1778?–?1855) erklärt es schließlich für unbedingt erforderlich, die Inhaber des evangelischen Pfarramts als Priester zu verstehen, weil „nimmer die Kirche einen Bestand hat ohne einen Priesterstand“.

Es ist von daher nicht verwunderlich, dass der von 1947?–?71 amtierende Hannoversche Landesbischof und Präsident des Lutherischen Weltbundes Hanns Lilje stets darauf bestand, mit „Hochwürden“ angeredet zu werden. Öffentliche Auftritte absolvierte er bevorzugt im „Lutherrock“, einer Art Kaftan. Und zu alledem passt gut der Sprachgebrauch des Artikels 78 der Verfassung der Hannoverschen Landeskirche von 1971. Dieser Artikel regelt, wer der Synode der Landeskirche angehört und unterscheidet dabei zwischen „geistlichen“ und „nichtgeist­lichen“ Mitgliedern.

Genau dem hatte Luther allerdings ein Ende bereiten wollen (siehe oben). Die Tendenz, „die Kirche“ exklusiv mit ihren ordinierten Theo­logen gleichzusetzen, hat sich seither aber eher verfestigt als abgebaut. Unter anderem ist das an der Entwicklung des Deutschen Evangelischen Kirchentags (DEKT) ablesbar. Er wurde 1949 als evangelisches „Laientreffen“ gegründet von einer Gruppe, der ausschließlich „Laien“ angehörten, darunter der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann. Wie sehr der Kirchentag inzwischen eine Veranstaltung unter theologischer und kirchenleitender ­Kontrolle geworden ist, dafür gab es 2011 in Dresden ein Beispiel. Zu einer Veranstaltung beim dortigen 33. DEKT war der bekannteste unter den Kritikern der kirchlichen Lehre vom Sühnopfer­tod Jesu, Professor Klaus-Peter Jörns, eingeladen. Das brisante Thema fand große Aufmerksamkeit. Auf dem Podium aber war Jörns ausschließlich umgeben von Theologinnen und Theologen, die mehr oder weniger Gegenteiliges zu seiner Position vertraten, an der Spitze die Vizepräses der Evangelischen Kirche im Rheinland Petra Bosse-Huber. Wie bei vie­len anderen Kirchentagsveranstaltungen blieben dagegen die ca. 3.000 anwesenden „Laien“ ohne Repräsentanz auf dem Podium. Eine solche hätte es aber durchaus geben können: Im kirchlichen PR-Magazin „chrismon“ hatte 2008 einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller der Gegenwart, Bernhard Schlink, eine recht ­herausfordernde Stellungnahme zum strittigen Thema formuliert. Aber auch er ist eben nur ein „Laie“. Da nützt es dann auch nichts, dass Luther ihm eine prinzipielle Kompetenz für „des christlichen Standes Besserung“ zugesprochen hat.