Kommentar von Bernd Hans Göhrig

Koranleser – stör´ mich nicht!

09.10.07

 

Es war einer dieser Tage: Früh aus dem Bett und directement mit einer großen Tasse Kaffee an den Schreibtisch, ohne Mittagessen durchgearbeitet bis kurz nach halb sieben, unterbrochen von dreimaligem Drogenaufbrühen. Und das Telefon stand nicht still. Dann der Sprint zum Bahnhof, mein ICE nach Berlin fuhr um 19:13 – das Leben will gelebt werden.

 

Nach Parforce-Ritten wie diesen freue ich mich stets auf eine ruhige Fahrt im ICE-Restaurant: Die Landschaft gleitet sanft in die Dämmerung hinüber, ein gutes Buch entführt mich dem Tagesgeschäft und bereitet auf die Traumwelten der Nacht vor. Diesmal war es die Urtextausgabe von Karl Mays Winnetou II, im roten Band der Züricher Ausgabe – konnte es einen schöneren Kontrast geben? 

 

In Kassel ist alles vorbei. Eine runde Dame Anfang der Fünfzig, Typ „urban professional“, fühlt sich offenbar von der behaglichen Atmosphäre an meinem Tisch sehr angezogen – kein Problem, ich bin ein höflicher Bahnreisender. Glücklicherweise ist es ihr gelungen, sämtliche Geschäfte ihrer Werbeagentur einen Tag früher abzuschließen – den Angetrauten in der heimatlichen Berliner Ferne freut´s nicht ganz so wie offenbar erwartet. Ich teile seine Stimmung: Hilfloser Versuch einer lächelnden Kontaktaufnahme meinerseits, ohne Erfolg. Die Freundinnen in Bamberg – Funkloch – Amsterdam – Funkloch – Hannover – Funkloch – haben auch nichts Neues zu berichten. Ich starte einen ersten Anlauf: „Entschuldigen Sie, in diesem Wagen ist der Empfang grundsätzlich nicht so gut.“ Keine Reaktion.

 

Zeitschriften werden rausgekramt, Hoffnung flammt auf. Frischer Salat an Putenbruststreifen. Ich verliere mich wieder in den Wirren des mexikanischen Bürgerkrieges: Winnetou unterstützt die indianische Partei des Benito Juarez gegen den von Napoleon eingesetzten Erzherzog Maximilian … Geräusche der Wildnis aus dem Off. Da – eine Gefahr naht, der dumpfe Klang der Trommeln wird stärker … welche Trommeln? Ein ängstlicher Seitenblick belehrt mich: Die Frau ist inzwischen bewaffnet – aus einem großen Kopfhörer quillt schlechte Musik in unsere Atmosphäre. Aggressives Zeitungsblättern. Ich versuche es noch einmal: Winken mit der rechten Hand, mit beiden Zeigefingern auf die Ohren deuten. Keine Reaktion.

 

Da kommt ein Lied, das ich kenne – ich bin ein musikalischer Mensch und kompromissbereit. Doch bei Techno ein Stück weiter hört der Spaß dann auf: „Hallo?“ – „Hallo!“ – „Ihre Musik ist zu laut!“ Sie schimpft und dreht auf – Eskalation! Da naht Rettung – die Kellnerin bleibt stehen: „Würden Sie bitte Ihre Musik leiser stellen!“ – „Ich höre nichts, die Musik ist zu laut!“ Ich bin sprachlos – die Kellnerin desgleichen und zieht ab.

 

Blicke richten sich – kann ich so einfach aufgeben? War ich nicht zuerst hier? Sie will auch bis Berlin – wenn ich jetzt nichts tue … Ich bin ein hoffnungsfroher Zeitgenosse: „Das kann ja wohl nicht sein, können Sie nicht verstehen, dass ich in Ruhe mein Buch lesen möchte?“ – Sie schaut mich an, dreht die Musik runter, setzt den Kopfhörer ab: „Dann lesen Sie doch Ihren KORAN woanders …!“