San Oscar Romero und die Kirche der Armen

Ein Beitrag zum Gedenken an die Heiligsprechung des Märtyrers durch die Kirche von unten auf dem ganzen Erdkreis


Ein ökumenisches Schreiben von basiskirchlichen Initiativen, Kirchenreformbewegung, Christinnen und Christen aus allen Konfessionen und namhaften Theologen ruft dazu auf, am 1. Mai 2011 der Heiligsprechung des Märtyrers San Oscar Romero durch die Armen Lateinamerikas und durch Freundinnen und Freunde Jesu auf dem ganzen Erdkreis zu gedenken. Der nachfolgende Beitrag erhellt einige Hintergründe dieser „Beatifikation“ von unten.

Zu den Kritikern der Theologie der Befreiung gehörte in El Salvador ein Priester mit Namen Oscar Arnulfo Romero (1917-1980). Dieser schöngeistige und konservative Seelsorger hatte in Rom noch unter Pius XII. die orthodoxe Dogmatik studiert. Er empfand die enge kirchliche Liaison mit der Oligarchie nicht als Skandal. Die klassische Armenfürsorge lag ihm sehr am Herzen. Der Vatikan ernannte den frommen Traditionalisten 1977 zum Erzbischof von San Salvador. In seiner Funktion als Vorsitzender der Bischofskonferenz von El Salvador sah Romero die brutale Politik des Regimes sehr bald in einem neuen Licht. Im März 1977 wurde der ihm befreundete Befreiungstheologe Rutilio Grande SJ zusammen mit einem Messdiener und einem 65jährigen Katecheten im Auftrag der Großgrundbesitzer ermordet. Jetzt kündigte Romero die Zusammenarbeit mit der Regierung auf: „Die Not einer Kirche, die verfolgt wird bis hin zur Ermordung eines Priesters hat mich dazu gezwungen, meine Seelsorge stärker auf die Verteidigung der Kirche und der Menschenrechte zu orientieren.“ Die Militärjunta huldigte der in Lateinamerika vorherrschenden „Doktrin der Nationalen Sicherheit“ (Weihbischof Gregor Rosa Chavez beschreibt diese Ideologie so: „Jeder, der Veränderungen will, ist Kommunist und muss eliminiert werden“). Als fester Bestandteil des Staatsapparates fungierten die „Todesschwadronen“ zur Ermordung von Regimegegnern. Romero besuchte die Gemeinden und Christen, die zur Zielscheibe dieses Staatsterrors wurden, und ließ im Menschenrechtsbüro seines Bistums alle Vorfälle akribisch dokumentieren. Nach einem der zahlreichen Morde predigte er: „Fern sei uns Rache, lasst uns beten mit Jesus: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“ Allerdings wollte er hinsichtlich des Befreiungskampfes in El Salvador nicht Ursache und Wirkung miteinander verwechseln. Frieden sei ohne Gerechtigkeit nicht möglich: „Die Ursache [unserer Probleme] liegt in der sozialen Ungerechtigkeit und im Festhalten an Privilegien, die vom Volk nicht mehr akzeptiert werden. Das ganze System muss sich ändern, denn es kann nur noch mit der Herrschaft des Geldes und der Macht eines gekauften Militärs aufrechterhalten werden.“

„Ich werde nicht noch einmal nach Rom kommen. Der Papst versteht mich nicht.“

Im Vatikan residierte nun seit dem 16. Oktober 1978 Karol Wojtyla, der aufgrund der schmerzlichen Erfahrungen in Polen von Marxisten pauschal nichts Gutes erhoffte. In Sachen „Romero“ schrieb der in Polen geborene US-Sicherheitsberater Zbigniew Kazimierz Brzezinski an den Heiligen Stuhl: „Wir haben den Erzbischof und seine Berater mit Nachdruck vor einer Unterstützung der extremen Linken gewarnt. Leider waren unsere Bemühungen, ihn zu überzeugen, nicht erfolgreich.“ Im Januar 1979 hatte Romero den Präsidenten von El Salvador wegen dessen Untätigkeit angesichts der fortlaufenden Ermordung von Christen exkommuniziert. Im Frühjahr des Jahres fuhr er nach Rom, um den Papst wegen der anhaltenden Kirchenverfolgung um Unterstützung zu bitten. Im Gepäck hatte er eine sorgfältig zusammengestellte Dokumentation und ein Foto des kurz zuvor ermordeten indigenen Priesters Octavio Ortiz. Laut Augenzeugenbericht von Monsignore Jesus Delgado kam es auf dem Petersplatz zu folgendem Dialog. Der Papst: „Ah, Monsignore Romero. Hüten Sie sich vor dem Kommunismus!“ Romero: „Eure Heiligkeit, die Kommunisten in Salvador sind nicht dasselbe wie in Polen.“ Der Papst noch einmal: „Hüten Sie sich vor dem Kommunismus!“ Die Romero-Biographin María López Vigil schreibt, Johannes Paul II. habe bei einem Treffen am Folgetag nur über die Fülle der vorgelegten Dokumente geklagt und keines der Papiere auch nur angerührt. Er sei vom Foto des ermordeten Priesters unberührt geblieben und habe – ohne Fragen zu stellen – „Harmonie“ mit der salvadorianischen Regierung eingefordert. Verbürgt ist die große Enttäuschung Romeros: „Ich glaube, ich werde nicht noch einmal nach Rom kommen. Der Papst versteht mich nicht.“ An der Kathedrale von San Salvador hatte es gerade wieder ein Massaker gegeben.
Vergeblich hatte der Vatikan Anfang 1979 die Universität Georgetown in Washington gebeten, von einer Verleihung der Ehrendoktorwürde an Romero Abstand zu nehmen. Im März 1980, so John L. Allen, entschieden sich die drei Kurienkardinäle Odino, Seper und Baggio dafür, dem Papst eine Amtsenthebung des Erzbischofs von San Salvador zu empfehlen. Diese Entscheidung kam nicht mehr zur Ausführung, denn wenige Tage später wurde Oscar Romero am Altar erschossen. Christen in Lateinamerika und auf der ganzen Welt verehren heute den Bischof als den Heiligen, der mit Waffen nicht getötet werden kann: „San Romero de América“. Die römische Kirchenhierarchie hat nach ihrer unterlassenen Hilfeleistung und ihren Interventionen gegen den Erzbischof gewiss nicht das Recht, diese Heiligsprechung noch zusätzlich von oben herab zu krönen (1988 maßregelte Kardinal Ratzinger den brasilianischen Dichter und Bischof Pedro Casaldáliga auch deshalb, weil dieser den Märtyrer Romero öffentlich als Märtyrer bezeichnet hatte). Indessen stellt sich vielmehr die Aufgabe, heute eine innerkirchliche Untersuchungskommission einzurichten, welche untersucht, inwieweit der Vatikan mit seinem aggressiven Feldzug gegen die Befreiungstheologie nicht den katholischen Mördern von Priestern, Ordensleuten und Katecheten willkommene Argumentationshilfen zur Verfügung gestellt hat und durch die guten Kontakte nach Washington der Kirche der Armen regelrecht in den Rücken gefallen ist.

Edward Schillebeeckx: „Die Diktatoren Lateinamerikas werden die Anweisung der Glaubenskongregation mit Freuden aufnehmen“

Die Reagan-Administration, mit der Rom in Austausch stand, nahm 1982 von der Befreiungstheologie über das so genannte „Santa-Fe-Dokument“ Notiz. Als Gegenmaßnahme zur katholischen Kapitalismuskritik wurde darin z.B. die Unterstützung US-freundlicher protestantischer Gruppierungen in Lateinamerika vorgeschlagen. 1983 folgte eine Anhörung zur Befreiungstheologie im US-Senatsunterausschuss für „Sicherheit und Terrorismus“. 1987 nannte eine „Conference of American Armies“, auf der auch die USA und El Salvador vertreten waren, in ihrem Bericht die Namen von „kommunistischen“ Priestern und Theologen. Auf der Liste stand auch bereits Pater Ignacio Ellacuría, einer der am 16.11.1989 in San Salvador ermordeten sechs Jesuiten. Zur Rechtfertigung für ihre Christenverfolgung beriefen sich Faschisten in Lateinamerika gerne auf die Amtskirche. Als Joseph Ratzinger 1984 – zum Missfallen des Vatikanstaatssekretärs Agostini Casaroli – sein scharfes Dokument zur Befreiungstheologie veröffentlicht hatte, meinte der Dominikanertheologe Edward Schillebeeckx: „Die Diktatoren Lateinamerikas werden [die Anweisung] mit Freuden aufnehmen, denn sie wird ihren Zwecken dienen.“ 1985 deklarierte ein Prälatenkreis um Lopez Trujillo bei einem Treffen in Chile die Befreiungstheologie als „marxistische Verkehrung“ des Glaubens. Pinochets Staatsfernsehen berichtete ausführlich darüber, und das Militär rechtfertigte unter Berufung auf die besagte Diagnose die Verhaftung des progressiven Paters Renato Hevia.
Der römische Kampf gegen die Befreiungstheologie ist ein dunkles Kapitel aus kirchenpolitischen Strategien, Verleumdungen und Personal-„Säuberungen“, die sogar vor einem weltweit geachteten Bischof wie Dom Hélder Câmara nicht haltmachen sollten. Mangelnder Sinn für Demokratie war nie der Kritikpunkt (mit Redeverboten zeigte Rom den Theologen der Armen ja, was es von Freiheitlichkeit hielt). Johannes Paul II. konnte immerhin auf eigene Erfahrungen von Kirchenverfolgung zurückgreifen. Er war in der Sache widersprüchlich. Einerseits wiederholte er mehrfach seinen pauschalen Marxismus-Verdacht. Andererseits griff er Anliegen der Befreiungstheologen auf. Bei seinem Niederknien am Grab Romeros hat er vielleicht Bedauern empfunden über sein schroffes Verhalten beim Bittbesuch des Erzbischofs Anfang 1979. Joseph Ratzinger, zeitlebens ein vom Schreibtisch geschützter – typisch deutscher – Büchertheologe, war als Gegner der Befreiungstheologie spätestens seit 1978 aktiv (Carl Amery nennt ihn in diesem Zusammenhang den „Wahrheitswächterkardinal“). John L. Allen schrieb vor 10 Jahren: „Fast die Hälfte der weltweit eine Milliarde Katholiken sind Lateinamerikaner. ... Wo die katholische Kirche eine solch dominante Kraft darstellt, ist man berechtigt, eine Sozialordnung zu erwarten, die die Wertvorstellungen des Evangeliums besser wiedergibt. ... Dass der lateinamerikanische Katholizismus in den neunziger Jahren keine solche Wirkung ausübte, ist in großem Maß von Joseph Ratzinger zu verantworten.“

Heiligkeit oder „nur Mitmenschlichkeit“?

Aus einer abgelösten Göttlichkeits-Christuslehre, welche die Basis der gettoisierenden Sakralreligion und einer Sektenbildung ist, folgen ganz unbiblische Gegenüberstellungen. Zum Beispiel fragt man bezüglich der Heiligkeit eines Märtyrers, ob er denn nun „wirklich für den Glauben“ gelitten hat oder „nur“ für die Menschlichkeit. Nimmt man die Gottesbildlichkeit des Menschen ernst, kann es zu einer solchen Alternative erst gar nicht kommen. Dies eben lehrt uns eindringlich der Salvadorianer San Oscar Arnulfo Romero. Das Militärregime seines Landes stützte die Reichen und unterdrückte auf blutige Weise die Bevölkerung. Die politisch Verantwortlichen nannte Bischof Romero – den unverbindlichen Stil kirchlicher Protestnoten verlassend – beim Namen. An die Auftragsmörder und Handlanger der Junta richtete er folgende Predigtworte: „Ein Mörder ist auch der, der foltert ... Niemand darf Hand anlegen an einen anderen Menschen, denn der Mensch ist Ebenbild Gottes.“ Einen Tag vor seiner eigenen Ermordung am 24. März 1980 hielt Romero eine Predigt, wie sie seit Bestehen der Staatskirchlichkeit wohl nur selten von einem Bischof gehalten worden ist. Er forderte darin die Soldaten öffentlich zur Befehlsverweigerung auf: „Im Namen Gottes und im Namen dieses gepeinigten Volkes bitte ich Euch, befehle ich Euch: Hört auf mit der Unterdrückung!“ Wie widersinnig ist die Frage, ob ein Bischof, der die Gottesebenbildlichkeit des Menschen verteidigt, damit ein Glaubenszeugnis ablegt. Wie beschämend ist es, dass Papst Benedikt XVI. bei seinem USA-Besuch im April 2008 nicht die unmissverständlichen Worte des heiligen Oscar Romero zu wiederholen vermochte: „Ein Mörder ist auch der, der foltert ... Niemand darf Hand anlegen an einen anderen Menschen, denn der Mensch ist Ebenbild Gottes.“ Sein Gastgeber Präsident George W. Bush, verantwortlich für eine neue Folterära im 3. Jahrtausend, hatte schon im Vorfeld dieser Reise kundgetan: „Wenn ich in die Augen des Papstes sehe, dann sehe ich Gott.“ Bush wurde zwei Monate später vom Papst zu einem privilegierten Empfang in den Vatikanischen Gärten eingeladen, wie er noch nie einem Staatsoberhaupt zuvor gewährt worden war. Selbst hohe Prälaten der Kurie waren irritiert. Es entsteht der Eindruck: Man muss seine imperiale Politik, die viele hunderttausend Opfer fordert, nur mit bestimmten Voten zu Abtreibung oder „Homoehe“ kombinieren, dann ist man beim derzeitigen Nachfolger Petri herzlich willkommen. So „unpolitisch“ ist das Pontifikat von Joseph Ratzinger.


Der Kampf gegen die Kirche der Armen dauert an

Noch nach dem Zusammenbruch des autoritären Staatssozialismus sowjetischer Prägung sorgte Rom dafür, dass 1992 die Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe (CELAM) in einem vorgelegten Abschlussdokument jeglichen Bezug der Gottesreichverkündigung Jesu zur irdischen Sozialordnung verneinte. Zu den Leitern der Konferenz gehörte der chilenische Kardinal Jorge Medina Estévez, „der lange Zeit mit Chiles General Augusto Pinochet auf gutem Fuß gestanden hatte“ (J. L. Allen). Bis heute hat Roms Kampf gegen die Kirche der Armen noch immer nicht aufgehört. Protegiert wurden die schändlichen Busenfreunde der Oligarchen unter den Bischöfen; gemaßregelt die verfolgten Christen. Zuletzt traf es im Frühjahr 2007 einen der bekanntesten und populärsten Befreiungstheologen, den Jesuiten Jon Sobrino. Die Glaubenskongregation erinnert in der gegen ihn gerichteten Notifikation viel sagend an ein Wort von Johannes Paul II.: Es ist „die erste Armut der Völker, … dass sie Christus nicht kennen“. Zentraler Streitpunkt ist neben der Rede vom Reich Gottes die so genannte Zweinaturenlehre (Sobrino wird vorgeworfen, er verstehe das Reich Gottes irdisch und gesellschaftsbezogen und er nehme bei Jesus kein Bewusstsein vom eigenen Gottsein an). Beide Punkte sind Kernanliegen im kurz darauf erschienenen christologischen Jesus-Buch von Joseph Ratzinger (dessen Mentor Hans Urs von Balthasar hatte schon in den 1970er Jahren das befreiungstheologische Reich-Gottes-Verständnis als judaisierende Tendenz betrachtete). Bis heute hat uns der Papst nicht mitgeteilt, wie wir uns denn das Gottesbewusstsein des „Menschen Christus Jesus“ (1 Tim 2,5) auf rechtgläubige Weise vorstellen dürfen. Das Heilige Offizium ist wohl ernährt und schläft offenbar auch sehr gut. Es kann darüber viel nachsinnen …
Die Wahl fiel wohl kaum zufällig auf Sobrino. Dieser war früher ein enger Berater von Erzbischof Romero. Als am 16. November 1989 ein Todeskommando der Militärs die Jesuiten-Kommunität in San Salvador überfiel, überlebte er als einziges Mitglied der Hausgemeinschaft und zwar nur deshalb, weil er verreist war. Sobrino gehört zu denen, die sich nicht mit Verhältnissen abfinden, in denen der Mensch „ein verachtetes und geknechtetes Wesen“ ist. Das erinnert an das Grundmotiv von Karl Marx, aber noch mehr an ein sehr altes Buch: die Bibel.

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Der Text ist mit leichten Veränderungen und unter Wegfall der Fußnoten übernommen aus: Peter Bürger, Die fromme Revolte – Katholiken brechen auf. Oberursel: Publik-Forum 2009.