Kommentar von Bernd Hans Göhrig
Herr Ratzinger spielt Papst
29.06.2009
"Auch der Papst hat sich jetzt gegen die übertriebenen
Frauenmoden geäußert", erzählte die Sanitätsrätin.
Man sah Erika und die beiden Herren um die Ecke biegen.
"Heinrich ist ein netter Mensch", nickte die Sanitätsrätin befriedigt.
"Wie vernünftig er über die modernen Maler sprach.
Er hätte auch Papa gut gefallen", fuhr sie beharrlich fort.
aus: Lion Feuchtwanger, Das Selbstporträt
Es gehört nicht zuviel Phantasie dazu, sich vorzustellen, WIE der nette Heinrich über die modernen Maler wohl gesprochen haben mag. Die Autoritäten der Sanitätsrätin - die Dame war selbstverständlich DIE GATTIN eines Sanitätsrats und nicht etwa selbst beruflich geadelt - sind mit Papst und „Papa“, also ihrem Ehemann, hinreichend benannt.
"Die Generation der heute etwa Achtzigjährigen ist nationalsozialistisch geprägt worden und bildete zugleich den jüngsten Teil der Aufbaugeneration der demokratischen Nachkriegsgesellschaft. Diese doppelte Prägung hat tiefe Spuren hinterlassen. Bei aller intellektuellen Distanz zum Nationalsozialismus kennzeichnet sie eine gewisse Starrheit im Habitus, eine Neigung zur Unbedingtheit, zum Rechthaben, zum Eindeutigen." Derart ernüchternd demaskierte der Erinnerungsforscher Harald Welzer (geboren 1958) vor drei Jahren die charakterlichen Grundlagen einer Generation, deren Diskurse seit den 60er Jahren bis heute - und noch mindestens für 10 Jahre - das öffentliche Leben des Landes prägen.
Doch während sich das säkulare Deutschland in immer wiederkehrenden Identifikationsgefechten langsam, aber sicher von dieser Generation verabschiedet, verankerte sich das Schiff der römisch-katholischen Kirche mit der Wahl von Joseph Ratzinger 2005 gezielt innerhalb des Diskursrahmens dieser Generation und schlingert seither von einem gefährlichen Fahrwasser ins nächste, weil der päpstliche Steuermann den Umgang mit modernen Navigationsinstrumenten beharrlich verweigert – die alten Karten sind halt doch die besten! Auch er ist ein Angehöriger jener Generation, und beim nochmaligen Durchgehen der von Welzer identifizierten Charakterkennzeichen muss man aufmerken: "Starrheit im Habitus, eine Neigung zur Unbedingtheit, zum Rechthaben, zum Eindeutigen" – ein Lump, wer das nicht zugibt!
Dabei kommt der alte Herr durchaus nett daher – und Nettigkeit ist eine gern gesehene Eigenschaft älterer Menschen: Eine alte Tante ist nett, wenn sie den Kindern eine Tafel Schokolade mitbringt. Ein alter Onkel ist nett, wenn er das Spielzeug seiner Enkel repariert. Auch Joseph Ratzinger lächelt nett, doch seine Nettigkeit verbirgt mehr, als dass sie etwas gibt – nicht die Opafreude des Schenkens scheint ihn zu motivieren. Das listige Funkeln seiner Augen sagt eher: „Ich habe es geschafft und ihr könnt mir gar nichts“, und: „Jetzt darf ich machen und sagen, was ich will.“ Zu dumm nur, dass dies immer wieder schief geht: Sei es die arrogante Umdeutung der lateinamerikanischen Eroberung in gut kolonialer Manier, seien es die unsensiblen Auftritte in Auschwitz und Yad Vashem, oder die Regensburger Rede, das wiederholte Brüskieren der protestantischen Kirchen, das Skandalon der revidierten Karfreitagsbitte oder die Rehabilitierung der Pius-Brüder … da beansprucht jemand Narrenfreiheit und bemerkt im Eifer nicht, dass er das Amt zum Narrenamt demontiert.
Herr Ratzinger ist ein typischer Vertreter seiner Generation – und war als Chef der Glaubenskongregation auf dem Posten angelangt, an dem er sich befriedigend und für ihn sinnvoll betätigen konnte. Als Glaubenswächter wachte er über die korrekte Ausübung des Glaubens und schritt bei Verstößen ohne Gnade ein – und kontrollierte zu oft sogar den Chef höchstpersönlich. Das hatte auch tödliche Folgen: Als Rom die Befreiungstheologie an den lateinamerikanischen Pranger stellte, entzog sie Tausenden von Priestern, Ordensfrauen und -männern, Katechetinnen und Katecheten den Schutz der Kirche – und lieferte sie den Gewehren und Macheten der Todeskommandos aus, die in den 70er und 80er Jahren mit US-amerikanischer Unterstützung Kolumbien, El Salvador, Chile, Argentinien usw. den „Krieg gegen den Kommunismus“ auf dem blutigen Rücken der Bevölkerung austrugen. „Sei ein Patriot – töte einen Priester!“ stand auf den Flugblättern, die über El Salvador abgeworfen wurden. Pater Rutilio Grande, Erzbischof Oscar Romero, Pater Ignácio Ellacuria heißen die auch hierzulande bekannten Opfer in El Salvador – die unbekannten Opfer sind unzählige. Auch wenn diese Tätigkeit seinem Selbstbild als großer Theologe nicht entsprach - er beherrschte sein Handwerk ganz offensichtlich und zum Leid vieler Menschen.
Doch was fängt Herr Ratzinger nun mit der erweiterten Macht im neuen Amt an? Er kann nicht aus seiner Haut – und zeigt der Welt, wie Papst wirklich geht. Es ist das Dilemma des ewig Zweitplazierten – zu lange in der Rolle des Untergeordneten und doch Übermächtigen geübt, geriet er durch eine Laune der Geschichte wider Erwarten auf den ersten Platz. Nun weiß er genau, wie das geht und kann doch nicht anders, als eine Rolle zu spielen. Das Amt wird ihm zur Bühne, auf der er seine Ambitionen, seine Interessen und Leidenschaften der Welt zum Schauspiel anbietet – mit roten Schuhen und anderen Retroklamotten als visuelle Botschaft. Damit beschädigt er zwar das Amt – doch er darf das, denn er ist ja Papst und keiner kann ihm da dreinreden.
Flankiert wird dieses Bewusstsein von einer strategischen Vernunft par excellence: Herr Ratzinger kennt den kirchenpolitischen Apparat wie kein zweiter, er hat ihn nach seinem Bild weltweit geformt. Er verfügt über die Argumentationsweisen, die ihn innerhalb des theologischen Systems über Wasser halten und nach außen hin als intelligent erscheinen lassen. Und er weiß gezielt zu provozieren, um entweder konservatives Terrain nicht aufgeben zu müssen oder um Maßstäbe gar verschieben zu können – zum Beispiel im vergangenheitspolitischen Umgang mit der Zeit des Faschismus bis hin zu den lateinamerikanischen Diktaturen, wie seine Besuche in Auschwitz, in Yad Vashem und in Aparecida gezeigt haben.
Vernünftig weiß er über moderne Entwicklungen zu sprechen – doch als Dilettant auf dem Papstthron bleibt er stets und gekonnt sich selbst treu: Unbeeindruckt von den „Zeichen der Zeit“ – Herausforderungen wie HIV/AIDS, Armut, neuen Kriegen und Bedrohungsszenarien – beharrt er auf der Rolle des Anklägers und Richters in Moral- und Sittenfragen und verweigert es konsequent, Hirte und Prophet zu sein.
"Papa gefallen wollen“ kann ein Lebensthema, eine Lebensfalle sein. Welche Auswege kann es daraus geben? In steter Reibung am Vater ein eigenes Profil entwickeln? Oder doch lieber ein besonders guter Sohn sein? Beides sind nur vermeintliche Lösungsstrategien, zwei Seiten einer Medaille. Der weitaus verbreitetste Weg einer konstruktiven Bearbeitung ist es, selbst Papa zu werden. In der Biographie eines Mannes ist dieser Entwicklungsschritt ein einschneidender Impuls: Er führt in der Regel dazu, die Wahrnehmung des eigenen Vaters durch die Selbsterfahrung als Vater zu korrigieren und das eigene Vaterbild – auch zeitgemäß – weiter zu entwickeln. Aber dieser Entwicklungsschritt kann auch scheitern: Wenn das eigene Vater-sein am Klischee des eigenen Vaters kleben bleibt, wenn dieser noch immer als Reibungsfläche wahrgenommen wird …
In der Führungsriege der römisch-katholischen Kirche steht diese Erfahrung offiziell und zeitgleich immer nur einem Mitglied offen – und auch hier gibt es ein Scheitern am „Papa-sein“. Das ist mehr als ein Wortspiel: Auch ein Papst trägt das individuelle und soziale Vaterbild seiner Kindheit und Jugend mit sich, das vor 80 Jahren, also in den 20 und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts überwiegend autoritär konturiert war. Die berufliche Sozialisation Herrn Ratzingers konnte hier kaum korrigierend wirken. Schließlich nach 24 Jahren als strenger Wächter mit nahezu 80 Jahren zum Papst gewählt, hatte er keine realistische Chance, ein positives Papstverständnis zu entwickeln. Also macht er das einzig Sinnvolle: Er bleibt sich kirchenpolitisch treu - und frönt ansonsten seinen Hobbies.
Wenn es stimmt, dass auch Päpste nicht über die Theologie ihrer Jugend hinauskommen und daher immer ein Zeitverzug von etwa 50 Jahren anzusetzen ist, könnte der nächste Papst vom Aufbruch der Konzilszeit geprägt sein – es sei denn, er ist ein Kind der reaktionären Konzilsminderheit.