Einer von denen – (K)einer von uns?


von Sebastian Dittrich, November 2016


Normalerweise fällt der Name des sächsischen Städtchens Tharandt in Zusammenhang mit Forstwirtschaft und Nachhaltigkeit. Hier befindet sich der Fachbereich Forstwissenschaften der TU Dresden. Wo Tharandt geografisch verortet liegt, muss man den meisten Nicht-Sachsen erst erklären. Man kann sagen „bei Dresden“. Dann kommt manchmal die Nachfrage: „Aber so dicht dran doch nicht?“ - Nein, dazwischen liegt noch Freital. Und spätestens dann verdrehen die meisten die Augen. Denn Freital ist verrufen. Und auch nach Abflauen der Pogrom-Stimmung im Sommer 2015 muss ich mich dort nicht unnötig lange aufhalten. Der Unterschied zwischen Tharandt, dem so jugendlichen wie traditionsverbundenen Städtchen im Grünen, mittendrin die Gebäude der Forstwissenschaften, zum demographisch absteigenden, teils recht heruntergekommenen Freital könnte kaum größer sein.

Und dann das! Da erscheint bei „Zeit Campus“ (05/2016) im August 2016 ein Artikel1. Über einen Studenten der Forstwissenschaften in Tharandt. Einen, der bei PEGIDA in Dresden in der ersten Reihe mitgelaufen ist. Er erscheint mit geändertem Namen. Angeblich, um sich vor Übergriffen von Autonomen zu schützen. Naja. In seinem selbst gewählten Wohnort Freital wäre die Wahrscheinlichkeit, Opfer von rassistischen oder rechtsextremen Attacken zu werden, deutlich höher. Soll ich mich also mit „Klarnamen“ dazu äußern? Steht mir das als Hochschullehrer in Tharandt, dem jener Student vielleicht einmal gegenüber sitzen wird (oder gesessen hat), eigentlich zu? - Ja. Ich sehe das nicht als nur mein verfassungsmäßiges Freiheits-Recht, sondern auch als meine Pflicht.

Nun wäre es natürlich besser, direkt miteinander zu reden, als übereinander. Das geht hier aber nicht. Ich kann nur versuchen, über das, was der Artikel wiedergibt, die Position jenes Gegenüber, den die Reporterin als Paul Berger bezeichnet, nachzuvollziehen. So heißt es dort: „Gegner haben für Berger viele Namen. Er lehnt sie alle ab. Nazi, das will er nicht sein. Die sind ihm zu dumm. Rechtsradikal will er auch nicht sein. Gewalt sei schließlich keine Lösung. […] Die NPD sei eine Partei voller Idioten und Frauke Petry von der AfD zu wirtschaftsliberal.“ Naja. Das mit der NPD kann ich teilen – mit der Ergänzung: gefährliche Idioten. Und Frauke Petry kann bei mir auch zuverlässig Aggressionen hervorrufen. Wenn ich diese (angeblich) christliche Mitschwester so sehe, fantasiere ich manchmal darüber, ob der Antichrist der Johannes-Offenbarung nicht auch weiblich sein könnte. Warum marschiert nun aber ein Student, der doch ein realistische Chance hat, zur kommenden Elite dieses Lands zu gehören und später eine gesicherte Existenz zu haben, bei PEGIDA mit?


Begrenzte Einblicke


Die Reporterin vermochte das anscheinend auch nicht zu klären. Sie verlegt sich zunächst auf die bildreiche Schilderung eines offenbar sehr traditions- und naturverbundenen jungen Mannes, der sich im Universitätsbetrieb merklich fremd fühlt. Und offenbar auch nicht heimisch werden will. Zitiert werden Einlassungen über seine Mit-Studierenden, unter denen „viel zu viele Ökos“ seien. Er könne nicht verstehen, warum man Forstwissenschaften studiere, ohne einen Jagdschein machen zu wollen. Muss man auch nicht. Man kann persönliche Kontakte zu Mitstudierenden auf ein Minimum begrenzen. Und muss auch mit niemanden abends Bier trinken, wenn man das nicht will. Wer wie Herr Berger hochbegabt ist, mag auch auf eine Lerngruppe verzichten können. Und genug Freizeit haben, sich mit anderen Sachen zu befassen. Etwa bei Prozessen gegen Lutz Bachmann zuzuschauen.

Ich bleibe ratlos. Und verstört. Ich begreife nicht, wie man gebildet, intelligent und dabei derart vernagelt ist. Oder solch emotionale Kälte zeigen kann – Thema Flüchtlinge: „Diese Glücksritter-Mentalität mag ich nicht […] Deutschland kann nicht zur Psychiatrie der Welt werden“. Und die Flüchtlinge sind auch der Grund, weswegen Herr Berger nicht „dienen“ wollte – nach Bildern von Bundeswehrsoldaten, die in der Flüchtlings-Krise aushalfen, „überlegte er es sich anders, weil er für sein Land und sein Volk habe einstehen wollen und nicht für Flüchtlinge“. Jenes Volk hat ja angeblich Angst, laut Björn Höcke. Wer einen solchen Rassisten wertschätzt – so ist es aus dem Artikel herauszulesen – dem darf, muss man wohl eine ähnliche Geisteshaltung unterstellen. Aber ein Nazi, das will Herr Berger ja nicht sein.

Nun schreibe ich einseitig. Ich monologisiere, weil das reale Gegenüber fehlt. Ich polemisiere, bewusst. Und das ist einfach, wenn der Widerspruch fehlt. Aber auch umgekehrt hat es daran bisher ja offensichtlich gemangelt. Man kann mir – insbesondere als Hochschullehrer – vorwerfen, dass ich parteiisch bin. Dennoch würde ich nie nach persönlicher oder politischer Sympathie bewerten (ich muss es wohl betonen). Hätte ich also Klausuren von Herrn Berger oder der PEGIDA-kritischen Studentin Elisa Meyer (auch ihr Name ist zu ihrem Schutz im Artikel geändert) – ich könnte gar nicht anders, als jeweils rein nach vorliegender Leistung zu benoten. Etwas anderes hat mich hier nicht zu interessieren. Aber ist eine Hochschule, Universität deshalb ein unpolitischer Ort, an dem alles egal ist oder unwidersprochen stehen bleiben darf? Nein. Und das ist nicht nur im Interesse vermeintlicher „Ökos“ oder internationaler Studierender, die nach Abschluss ihrer Ausbildung vielleicht doch gerne in Deutschland bleiben wollen (womit Herr Berger auch nicht einverstanden wäre).


Lebensläufe als einfachste Erklärung?


Vielleicht verstört, verärgert mich Herr Berger auch so dermaßen, weil ich ahne, wie dünn, wie unscharf die Grenze sein kann – zwischen offenkundigen Menschenfeinden und (auch nicht ganz normalen) Menschen wie mir. Auch ich wurde schon früh in die Kategorie „begabt“ und „talentiert“ eingeordnet. Das macht manchmal einsam. Auch ich liebe meine Heimat, eine Kleinstadt in Niedersachsen, eingebettet zwischen schönen Wäldern. Auch ich bin naturverbunden, durch Sonntagspaziergänge im Wald und Arbeit in unserem Garten bin ich zur Biologie gekommen. Und nun in die Forstwissenschaft. Als Schriftleiter einer regionalen Jahresschrift versuche ich, das Abstraktum „Heimat“ mit Inhalt zu füllen. Für mich ist Heimat auch mein christlicher Glaube, dessen Inhalte ich öffentlich verkündigen darf. Oder, richtig zum Anfassen, zwei Schalen aus Nussbaum-Holz die mein Ur-Urgroßvater gedrechselt hat. Familiengeschichte, die ich in Ehren halte – so wie Herr Berger den Suppenlöffel seines Urgroßvaters in Ehren hält. Dieser Löffel „mit Beulen und Kratzern“ trägt allerdings Reichsadler und Hakenkreuz.

Was ist da nun passiert, dass Herr Berger sich in seinem PEGIDA-Biotop wohlfühlt – und ich, der ich eigentlich gern in Dresden lebe, einen Brechreiz verspüre, wenn ich „PEGIDA“ nur höre? Es mag ja stimmen: Menschen werden nicht als Rassisten, Menschenfeinde geboren. Sie werden dazu gemacht. Aber was schützt uns davor, gerade, wenn wir nicht von Kindheit an multikulturell geprägt sind, in der Provinz aufwachsen, keine diversen Freundeskreise haben? Ich frage mich selbst: Muss mein Kinderarzt syrisch-stämmig sein, damit ich als Erwachsener mit syrischen Flüchtlingen freundlich umgehen kann? Muss ich mit einem gläubigen Muslim Basketball gespielt haben, um Andersgläubige zu akzeptieren? Mit Polen befreundet sein, um Autoklau-Witze blöd zu finden? Muss man selber homosexuell oder trans sein, um „Gender“ und „Homo-Ehe“ nicht als Hass-Objekte zu bekämpfen?

Ist Empathie, Mitgefühl, Toleranz uns Menschen nicht wortwörtlich „in die Wiege“ gelegt, oder kann man sie sich abgewöhnen, effektiv hinter Hass und Vorurteilen verdrängen? Kurz: Sind wir auf unseren Lebenswegen derart leicht formbar, deformierbar, verführbar, unseren Mitmenschen ein Wolf (Plautus) zu sein? Der Blick in Gegenwart und Vergangenheit lehrt: leider ja. Heute ist es PEGIDA, morgen etwas anderes. Was wir als gutes Miteinander, als Mitmenschlichkeit gewohnt sind und schätzen, ist nicht selbstverständlich. Es bleibt bedroht. Wer sich Hass-Bewegungen hingibt, kann uns nicht egal sein. Deren Opfer aber umso weniger.

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