Zum zwiespältigen Ergebnis des Synodalen Wegs
Zu wenig Mut – zu viel Loyalität
Veröffentlicht am 24.03.2023
„Ein Friedhof ist kein Lunapark“
(E. Kästner)
Am Ende der letzten Synodalversammlung (März 2023) haben sie geklatscht und Fahnen ge-schwenkt, einander umarmt und Tränen gewischt. Sind sie aus Erleichterung oder aus Enttäu-schung geflossen? Nach dem Debakel mit dem Grundlagentext „Leben in gelingenden Bezie-hungen“ (Sept. 2022) wurden die später behandelten Texte angenommen. Kamen die Bischöfe danach zur Besinnung oder hat ihr Warnschuss zur Zähmung des laikalen Übermuts genügt? Gewiss, Bischof Bätzing legte sich bei seinen „Mitbrüdern“ (wie sich die Herren Bischöfe ex-klusiv noch immer nennen) vermittelnd ins Zeug. Was aber gab es da noch zu vermitteln? Die vorauseilende Schere klickte von Anfang an in reformwilligen Köpfen. Bei sensiblen Formulie-rungen nahm man bischöfliche Meinungen wohl oder übel vorweg. Man wollte beides sein, mutig und loyal, was einer Quadratur des Kreises gleichkam. Zudem war das Dilemma gewollt, denn von Anfang hatte man sich per Satzung einer bischöflichen Abstimmungsklausel unter-worfen: Synodalität eben auf katholisch.
Befriedigende Resultate?
Wie effektiv dies wirkte und den Reformwillen des Gremiums enorm schwächte, hatte sich meist verdeckt in zahlreichen Abstimmungen gezeigt; der Kanonist Lüdecke hat dazu das Nötige gesagt: Wie schon bei früheren Unternehmungen hat sich das einfache Volk an die Bischöfe verkauft. Bei der letzten Zusammenkunft (März 2023) wurde es offenkundig. Zwar votierte sie recht einmütig für das Frauendiakonat und die Überprüfung des Pflichtzölibats, doch die subli-me Erpressung wurde offenkundig, als man sich zähneknirschend und unter höchstem Zeit-druck bischöflichen Textkorrekturen unterwarf, die das Priestertum von Frauen definitiv aus dem Horizont rückte und den Anwesenden eine Untertänigkeitsgeste abtrotzte. Rom sollte den Pflichtzölibat nicht „abschaffen“, sondern nur „überprüfen“; der Anspruch absoluter Papstherr-schaft war also zu wahren. Mit Bedacht hatte man diese Änderungswünsche so spät einge-bracht, dass eine Diskussion nicht mehr möglich war. Als der Bischof von Rottenburg-Stuttgart schließlich die Instrumente zeigte und in fürstlicher Manier erklärte, er lehne einen nicht korri-gierten Text ab, war allen klar, dass die Oberleitungen mit Blockade drohten. Ein Kotau sollte die deutsche Glaubenstreue beweisen. Die Bischöfe wollen eben nicht denken, sondern gehor-chen. Das war unwürdig und stellte in den letzten Sitzungsstunden noch einmal klar, wer in diesem autoritären System Herr ist und wer als dessen Lakaiin oder Lakai amtieren darf.
Man könnte pragmatisch reagieren und sich auf die Ergebnisse zurückziehen: Vom Betriebs-unfall Sexualpapier abgesehen wurden doch alle Grund- und Handlungstexte beschlossen. Was wollte man mehr? Doch bei genauerem Hinsehen wurden keine Reformen durchgesetzt, son-dern Pyrrhussiege errungen. Reform-Illusionen sind zerstört, inzwischen ist dies auch vielen Synodalmitgliedern klar. Gewiss, die Reformorientierten erlernten eine neue, ziemlich offene Gesprächskultur und haben für das kirchliche Krisenbewusstsein einen bemerkenswerten Schub erreicht. In der unmittelbaren Begegnung verloren sie gegenüber den hohen Herrn und ihren Machtapparaten die Scheu. Hochsensible Themen konnten in erstaunlicher Ruhe besprochen werden und manche herrschende Praxis wird jetzt entspannter, mit weniger Versteckspielen durchgeführt, wenn auch Grauzonen bleiben. Nichts mehr lässt sich so einfach verbieten. So hatte das Projekt ja auch erfolgversprechend begonnen. Immerhin hatten sich Bischofskonferenz und Zentralkomitee, wenn auch unter prekären Bedingungen, zusammengerauft. Auch einige Bischöfe lernten dazu oder trieben von Anfang an die Projektentwicklung voran. Das ist nicht zu unterschätzen. Aber ist der Versuch einer neuen Debattenkultur angesichts des fortbestehen-den hierarchischen Machtgefälles bereits als Erfolg zu werten?
Man erinnert sich: Als die Mitglieder der ersten Synodalversammlung (Jan./Febr. 2020) in Frankfurt nicht nach hierarchischem, sondern alphabetischem Rang gesetzt wurden, lachten sich viele ins Fäustchen. Kardinal Woelki musste sich kraft Alphabets auf die Empore begeben, statt in Reihe eins zu residieren. Doch dieser Egozentriker in Sachen Kirchenwürde zog daraus (nicht als einziger) den Schluss, hier gehe es nicht mehr katholisch zu. Man sollte sich bald mit Me-thoden rächen, die in anderen Institutionen als Intrige verpönt sind. Doch offensichtlich kennt unser mittelalterliches Kirchenkonstrukt noch andere Maßstäbe. Viele Progressive hatten das wohl übersehen.
Konsequentes Handeln?
Man kann nicht zufrieden sein. Aber warum ist man jetzt überrascht? War die Entwicklung nicht vorhersehbar und wie konnte man ergebene Naivität so lange als sachgezogene Loyalität ver-kaufen? Für diese Selbsttäuschung gibt es Gründe.
Zunächst blieben bis zum Schluss Ziel und Konzept des Projekts unklar, zumindest doppel-deutig. Niemand hat sie genau definiert und in diesem Zwielicht fühlte man sich wohl, weil sie elastische Reaktionsmöglichkeiten versprach. In Reaktion auf die MHG-Studie (Sept. 2018), die die deutschen Sexualskandale erstmals übergreifend inventarisierte, begann die Planung mit großer Erregung. Doch wäre es konsequent um die Austrocknung des Sexualsumpfs gegangen, hätte man sofort und zielführender handeln müssen, doch offensichtlich wagte man diesen Schritt nicht. Man hätte beginnen müssen mit der Laisierung aller Skandalpriester, um so in Seelsorge, Sozial- und Erziehungsarbeit auch die tadellos Tätigen zu schützen. Man hätte alle Verdachtsfälle und einschlägigen Akten an staatliche Gerichte übergeben, die konkreten Verbre-chensstrategien analysieren, angemessene juridische Gegenmaßnahmen ausarbeiten und post-wendend anwenden sollen. Es wäre gut gewesen, von Anfang an die Recherchen nicht nur in Klöster und Internate, sondern auch in die Pfarrgemeinden zu tragen, in denen es ebenfalls Ver-tuschung und Duldung gab.
Geboten gewesen wären die namentliche Rüge verstorbener Hierarchen und der kategorische Amtsverzicht noch lebender Bischöfe, die in den Verdacht der Verzögerung oder Vertuschung gerieten. Glaubwürdig geworden wäre das Projekt, wenn wenigstens einige unter ihnen freiwil-lig zurückgetreten oder sich öffentlich erklärt hätten. Wie wurden sie allmählich, vielleicht un-gewollt, zu Duldern oder Mittätern, ließen sich blind oder sublim in solche Katastrophen invol-vieren? Man hätte den Herrn vielleicht geglaubt und so überzeugende Einblicke erhalten in die-sen intransparenten, selbstbezogenen Ständestaat. Erspart geblieben wären uns diese unsäglich zähen, halb aufrichtigen, halb verlogenen, noch immer unehrlichen Stillhaltetechniken der Bis-tümer, die offensichtlichen und vermuteten Lügen, die Tarnung ihres Verhaltens als Nichtwis-sen oder Vergessen. Die Kirche wäre nicht zum beliebten Objekt bitterer Kabarettsendungen geworden. Die skandalöse Konstruktion, gemäß der befangene Hierarchen wie Woelki noch immer Herrn des Verfahrens sind und die Öffentlichkeit manipulieren können, ist für demokra-tische Rechtsverhältnisse unerträglich und für das Ansehen dieser Kirche tödlich.
So ist mir auch unerklärlich, mit welch gelassener Milde der Synodale Weg die katastropha-len Missstände behandelte. Bisweilen waren die Debatten von Freundlichkeit und Betulichkeit geradezu erstickt. In jedem dritten Satz wurde irgendjemandem gedankt, in jedem zweiten ein Ärger hinuntergeschluckt. Momente des geäußerten Schreckens und Erschreckens hat man kommentarlos übergangen. Dies hatte seine höchst unbarmherzige Seite, denn offene Kritik, Vorwürfe oder Rügen waren in der öffentlichen Debatte geradezu verpönt, so als handle es sich um einen erhabenen Gottesdienst. Einige erstickten geradezu in Tränen beim Versuch, ihre Ge-fühle dennoch offen zum Ausdruck zu bringen oder ihre Hilflosigkeit zu artikulieren. Im un-barmherzigen zwei-Minuten-Rhythmus und in der 90-Sekunden-Hetze musste es ohnehin bei Schlagworten bleiben. Vom oft zitierten Heiligen Geist und seinen Feuerflammen war nichts zu spüren, obwohl man unaufhörlich von ihm redete. Die aufwendige, digital und ästhetisch per-fektionierte Organisation im Stile einer Aktionärsversammlung tat ihr Übriges. Die geistlichen Ein- und Ausleitungen konnten diese Dynamik der Saturiertheit nicht durchbrechen.
Professioneller Diskurs?
In diesem Willen zur Ergebung bot sich der Übergang zu mehr grundsätzlichen Reformüberle-gungen an; man konnte die sperrige Missbrauchsfrage zur hermeneutischen Versuchsübung schönen. Gewichtig klingende, aber ungeklärte Schlagwörter machten die Runde: „systemisch“, „Narzissmus“, „Klerikalismus“, „Weiheamt“ und „Macht“ kommen hinzu. Schwammige Begrif-fe wie Sakramentalität und Christusrepräsentanz und ein ungeklärtes Bild vom Diakonat be-wirkten ein Übriges. Sie erweckten den Eindruck, wir hätten die kirchlichen Innenverhältnisse und Strukturen wenigstens intellektuell im Griff.
An diesem Punkt beginnt eine zweite Schieflage der Veranstaltung. Man begann, „syste-misch“ zu denken, wählte aber ganz unsystematisch aus dem System nur beliebige Elemente aus, ging geradezu amateurhaft vor. Für einen ersten Zugriff lag die getroffene Auswahl zwar nahe, doch reichte sie für eine gründliche Bearbeitung nicht aus. Keine detaillierte Machtanalyse ist im Kontrast zur Erfahrung des Heiligen zu finden und keine Erörterung der Frage, was Pries-tertum eigentlich bedeutet. Warum ist es erst später in der Volkskirche entstanden? Warum hat man nicht gesehen, dass sich die Blockade der Frauenordination viel leichter überwinden ließe, wenn man - im Sinne der Urkirche - den sakralen Anteil des Leitungsamts entmythisiert? Wie unbedarft ging man vor, als man die Kirche (getreu der Konzeption der hochkonservativen Vor-gängerpäpste) einseitig auf ihre Sakramentalität fixierte und damit einem Rückschritt ohneglei-chen verfiel, weil man den Wortes schlicht vergaß, obwohl dies auf dem 2. Vatikanum präsent war? Ist die Kirche nicht eine Kreatur dieses Wortes? Warum wurden im Lande von Martin Lu-ther reformatorische Impulse so massiv verschwiegen, lud man keine Personen ein, die unsere Konstrukte in der evangelischen Tradition hätten spiegeln können? Warum wird die radikale Kritik übersehen, die im Begriff des „allgemeinen“ oder „gemeinsamen“ Priestertums von An-fang an steckt? War Jesus denn ein angesehener Tempelpriester und kein umstrittener Prophet?
Erst verspätet wurde bei der Weg-Planung die kirchliche Stellung von Frauen entdeckt und dem Gesamtweg als viertes Forum hinzugefügt. Damit trat das entschärfte Sanierungsziel noch stärker in den Hintergrund, denn jetzt ging es dem Synodalen Weg endgültig um die Thematisie-rung von herausragenden Reformanliegen. Der Grundlagentext zur Frauenfrage ist vielleicht das einzige Dokument, dies im umfassenden Wortsinn Theologie betreibt, auf breiter Basis Schrift-befunde sowie im Sinne der kultur-, sozial- und Machtgeschichte hermeneutische Überle-gungen vorlegt. An diesem Punkt fallen die anderen Grundtexte ab.
Umso klarer zeigt sich das zentrale Defizit des Synodalen Wegs überhaupt; denn auch dieses Papier argumentiert nur im indirekten Modus. Man erfährt, was Päpste und Fromme, normale Leute, engagierte Frauen, die Menschen anderer Kulturen denken. Man kann sogar lesen, dass es vier Arten von Unfehlbarkeit gibt, und die kritische Tendenz dieser Aussagen ist natürlich klar. Doch auch hier wird nirgendwo Klartext geredet. So erfährt man nicht, dass das Ordinati-onsverbot des Wojty?apapstes selbst nach konservativen Kriterien nichts mit Unfehlbarkeit zu tun hat und die Unfehlbarkeitsidee ohnehin einen gotteslästerlichen Machtanspruch beinhaltet. Niemand wagt es zu sagen, wie massiv eine patriarchal-priesterliche Selbstverherrlichung der Botschaft Jesu rundum widerspricht und uns schlicht verbietet, diesem strukturellen Narzissmus weiterhin unsere Ehrfurcht zu erweisen.
Gewiss, diese Verbiegungen waren der Situation geschuldet. Offiziell lautet sie: Sorge um kirchliche Einheit und Versöhnung. Konkret meint sie: Zustimmung zu einem unerträglich au-toritären Glaubensverständnis. Die Abstimmungsrechte der Bischöfe sollten dafür sorgen, dass den Laien nicht der Kamm schwillt. Die vielfachen Gespräche und Interventionen während der Sitzungen haben gezeigt: faktisch lassen sich mit der Mehrheit der Bischöfe keine theologischen Gespräche führen, gemäß ihrem Amtsverständnis reagieren sie nicht diskursiv, sondern autori-tär. Mehr noch, sie ersetzen die glaubende Vernunft durch eine devote Unterordnung, die man vor kurzen noch ungeniert „Opfer des Intellekts“ (sacrificium intellectus) nannte. Die meisten Bischöfe verstehen sich nach wie vor als Sachwalter eine Glaubens, der als ein „Depositum“ hinterlegt ist, also eines detailliert ausgearbeiteten Denkprodukts, welches sie in ihren Schließfä-chern verwalten, mit Denzinger und kirchlichem Gesetzbuch decodieren. Es fällt auf, wie viele Bischöfe in Kirchenrecht und den Alten Kirchenvätern promoviert sind, auf Henri de Lubac, Urs von Balthasar und Joseph Ratzinger schwören. Doch mit diesen Hintergründen lässt sich kein sachbezogener Diskurs mehr entfalten, sondern nur noch Ergebenheit bekunden. Dominiert wurden die Gespräche deshalb von Geltungs- und Auslegungsansprüchen: Insiderdebatten be-stimmten die Atmosphäre: Welche Tradition gilt und welche Auslegung ist die richtige? Was diese Bischöfe Theologie nennen, besteht aus Denkblöcken, aus Findlingen, die den Test der Wirklichkeit schon lange verloren haben. Deshalb war der bischöfliche Vorwurf, die Reform-orientierten ließen es an Theologie mangeln, geradezu peinlich.
Entschiedener Widerspruch?
Allerdings ist auch eine bislang verschwiegene Kehrseite zu bedenken. Die Reformorientierten sind nicht nur dem klerikalen Druck erlegen, sondern haben den Bischöfen ihre Erpressungsak-tionen auch leicht gemacht. Der beinharte Widerstand von Reaktionären war vorherzusehen. Er hätte offensive Gegenstrategien erfordert. Doch im Gegenzug haben die Reformorientierten kei-ne argumentativen Diskurse erzwungen, weil sie in die Denkwelt der Beharrenden nicht einge-drungen sind, sich ihnen überlegen fühlten, ihnen die Denkfehler und Versäumnisse ihres Den-kens nicht vorgeführt haben. Die Frage nach den besseren Argumenten, nach kontextuellen Prägungen oder der größeren Schriftnähe wurde nie gestellt, die präzise, streng argumentierende Diskussion um ein Ja oder Nein fand nie statt. Stattdessen beließ man es bei hermeneutischen Andeutungen. So konnte es geschehen, dass die Diskussionen regelmäßig in polarisierenden Schlagworten verflachten. An diesem Punkt haben die Reformorientierten ihre große Chance verpasst.
So präsentierte sich eine schwache reformorientierte Theologie. Sie erschöpfte sich in der Projektion ihrer eigenen sympathischen Vorstellungen. Diese waren nicht falsch, aber auch nicht wehrhaft, weder konfliktbereit noch angesichts der katastrophalen Ereignisse konfliktfä-hig. Man hätte die Autoritären nicht schonen dürfen; die Opfer haben diese Nachlässigkeit nicht verdient. Wie wenig die Vorhut der Reformen die Sprengkraft der Situation begriffen hatte, zeigt der harmlose, geradezu idyllische Orientierungstext „Auf dem Weg der Umkehr und Er-neuerung.“. Bei der Suche nach Orientierung, heißt es dort, brauche es theologische Klarheit (Nr. 6). Wie aber wird sie in dieser verqueren Situation gefunden? Die Bischöfe, so heißt es, leisten „den Dienst der Einheit“ (Nr. 3). Verzeihung, in den besprochenen Problemen haben sie das gerade nicht getan; im Gegenteil, sie haben Einheit und inneren Frieden zerstört. In der Tra-dition erschließe sich der Sinn der Schrift, in der Schrift der Sinn der Tradition (Nr. 15). Solche Tautologien verdrängen nur das aktuelle Problem. Denn offensichtlich gib es eine Tradition, die den Sinn der Schrift permanent verfälscht und eine Schriftinterpretation, die Traditionen heimtü-ckisch in die Irre führt.
Der Synodale Weg hätte Anleitungen benötigt, die helfen, solche gefährlichen Harmonisie-rungen aufzubrechen. Später heißt es im Text, das Lehramt achte auf die Konsistenz und die Anschlussfähigkeit zum Bekenntnis des Glaubens. Die Theologie hingegen sichere den An-schluss an die Erkenntnisse, die im Diskurs der Wissenschaften in die Deutung aller Zeichen der Zeit einfließen (Nr. 42). Doch der Synodale Weg wurde organisiert, weil Lehramt und große Teile der Theologie in dieser hehren Aufgabe jämmerlich versagten. Wo bleiben Klage und An-klage, die Einstimmung auf ein strittiges Geschäft, weil geistwidrige Zustände zu überwinden sind. Bekehrung ist kein sanfter geistlicher Prozess, sondern das Ergebnis harter Auseinander-setzungen, weil Interessen auch in der Kirche ihr Recht verlangen. Paulus erklärt mit einigem Sarkasmus, er stehe den „Überaposteln“ in nichts nach (2 Kor 11,15, vgl. 12,11). In ungehöri-ger Anmaßung und in unlauterer Absicht wollte der Bischof von Rom unsere Kirche als „evan-gelisch“ diffamieren; ein offener empörter Widerspruch blieb aus. Solange solche Beißhem-mungen bei uns noch wirken, ist keine Bekehrung zu erwarten.
Ausgeblendete Gegenwart
Möglicherweise stoßen meine Beobachtungen auch bei den Reformorientierten auf Widerstand und Kritik. Mit Erich Kästner gefragt: Wo bleibt das Positive? Haben sie nicht ihr Bestes getan und versuchten sie nicht, auch unter massiv erschwerten Umständen die Geduld zu bewahren und einer geistoffenen Zukunft näher zu kommen? Gewiss, ihnen gebührt alle Anerkennung, besonders einigen unerschrockenen Ordensfrauen, dass sie sich auf das Wagnis der schwieri-gen Auseinandersetzung einließen. Man konnte bei vielen Trauer und Wut darüber spüren, was in unseren Tagen die Unglaubwürdigkeit der Kirche ausmacht. Aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie alle zum Opfer einer Seelsorge, Verkündigung und Selbstdarstellung wurden, die den Anschluss an die Gegenwart schon lange verpasst hat.
Es muss ja auffallen, dass die evangelischen Landeskirchen unter einem noch stärkeren Rele-vanzverlust leiden. Vielleicht sind die aktuellen Sexual- und Vertuschungsskandale nur die ent-fernten Symptome eines tief liegenden Kernproblems, das wir nur zusammen mit unseren Schwesterkirchen lösen können. Konkreter gesagt: Wir müssen uns endlich lösen von den Glaubensformen und Glaubensformeln der spätantiken Kirche mit ihrem Byzantinismus und ihren metaphysischen Spekulationen, der Opferideologie, einem machtbetonten Gottes- und eingetrübten Menschenbild sowie einer Christuslehre, die andere Religionen nicht als Ge-schwister anerkennen kann. Doch die Kirche ist nicht für sich selbst da. Ihre Botschaft wendet sich an die Verlorenen, die Orientierungslosen und an uns selbst, um uns und ihnen hier und jetzt ein Stück Hoffnung zu geben. Doch ohne Glaubwürdigkeit keine Strahlkraft.
Die Zugänge zur Botschaft und Lebenspraxis Jesu sind uns einerseits ferner, andererseits näher denn je. Der Kern unseres Christseins liegt nicht im kunstvoll ausformulierten Bekennt-nis, sondern in der aktuellen Nachfolge Jesu. Was das für unsere aktuelle Kirchengliedschaft bedeutet und welche Verzichte es erfordert, das müssen sich Glaubende und Suchende neu un-ter Schmerzen und im Widerspruch zu hierarchischen Versprechungen erarbeiten. Das Positive, das wir so gerne suchen, steht vorerst noch aus. Auf die Frage nach ihm antwortet E. Kästner: „Ein Friedhof ist kein Lunapark.“ Machen wir also erst die Arbeit, dann können wir feiern.
(Mit Dank an Günther Doliwa und Walter Lange für ihre Anregungen)