Kriegsdienst ist Nächstenliebe

Die EKD verabschiedet sich aus dem friedensethischen Diskurs


Uwe-Karsten Plisch, November 2025

Rezension zu
Welt in Unordnung –
Gerechter Friede im Blick

Evangelische Friedensethik angesichts
neuer Herausforderungen
Eine Denkschrift des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland
Herausgegeben von der Evangelischen Kirche
in Deutschland (EKD)
Leipzig (Evangelische Verlagsanstalt) 2025
152 S., 12,00 Euro

Durch Hannover geht ein Beben. Der Rat der EKD hat, huch, festgestellt: (Die) Welt (ist) in Unordnung. Nämlich seit nur 1.000 km östlich von uns Russlands Krieg gegen die Ukraine tobt. Als Bush und Obama auch von Deutschland aus gesteuert ihren Drohnenkrieg führten, um gezielt (und manchmal auch eher ungezielt) Menschen zu töten, war die Welt offenbar noch in Ordnung, oder jedenfalls nicht so in Unordnung, dass es die EKD merklich gestört hätte. Ebenso, als sich Deutschland am völkerrechtlich mindestens bedenklichen Kosovo-„Einsatz“ beteiligte (Kriege führen auch in dieser Denkschri immer nur die anderen) oder die „Koaliton der Willigen“ den Irak ins Chaos bombte, von den vielen, oft auch nach eigenen Maßstäben bemerkenswert erfolglosen, Auslands-„Einsätzen“ der Bundeswehr ganz zu schweigen. Kaum, dass die auch schon nicht unproblematische Friedensdenkschrift von 2007 ihre erste Bewährungsprobe zu bestehen hätte, wird sie nun also durch den Rat der EKD in die Tonne getreten und durch eine neue ersetzt.
Bereits der erste Satz des Vorwortes setzt den Maßstab für Peinlichkeit:

„Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) weiß sich in besonderer Weise dem Frieden verpflichtet.“ (S. 5)

Was soll das bedeuten? „Die EKD ist dem Frieden verpflichtet“ wäre ein klarer Satz, den man dann theologisch/friedensethisch entfalten könnte. „in besonderer Weise“ ist nur völlig sinnentleerter Kirchensprech, der „besonderen“ Inhalt vortäuscht, wo keiner ist. Überhaupt liest sich die Denkschrift über weite Strecken, als hätte eine KI eine regierungsamtliche Verlautbarung in eine „besondere“ evangelische Dikkton verwandelt, garniert mit allerlei einerseits andererseits und sowohl als auch. Ganz so einfach ist es aber natürlich nicht. Entscheidend sind die Adjektive, mit denen die Denkschrift klar macht, worum es eigentlich geht.
Mit der Formel von der „rechtserhaltenden Gewalt“, die schon in der vorigen Denkschrift eine wichtige Rolle spielte, meinen die Autor:innen einen Kniff gefunden zu haben, mit dem sie militärische Gewaltanwendung auch künftig rechtfertigen können. Allein 24-mal erscheint diese Zauberformel im Text. Wenn es aber primär um die Erhaltung des Rechts ginge, müsste die Denkschrift mindestens ebenso nachdrücklich die Stärkung internationaler Rechtsinstitutionen wie des internationalen Strafgerichtshofs in den Blick nehmen, der von gewaltaffinen Staaten wie den USA, Russland oder Israel nicht anerkannt wird. Die Denkschrift erwähnt ihn nur dreimal, einmal im Zusammenhang mit Ökozid, einmal im Bezug auf sexualisierte Gewalt und einmal als Parallele zur UNO, aber nicht im Zusammenhang mit Völkermord. Dass Ökozid, Klimagerechtigkeit und sexualisierte Gewalt im Zusammenhang mit Krieg bedacht werden, ist neu und positiv zu würdigen. Reflexionen darüber, dass Klimagerechtigkeit und wie man sie herstellen kann, mit einer gerechten, bzw. ungerechten Weltwirtschaftsordnung, d.h. mit dem globalen Kapitalismus (und wie man ihn überwindet, bzw. sozialdemokratisch gesprochen: einhegt) zusammenhängt, sucht man in dieser Denkschrift vergeblich.
Der Friedenspredigt Jesu fühlt sich die EKD zwar verpflichtet, verschiebt die Hoffnung auf Frieden aber auf ein jenseits der Zeit gedachtes mythisches Reich Gottes. Gott wird es dann schon richten, solange aber die Sünde in der Welt ist, darf der Mensch weiter feste draufhauen (natürlich nur, wenn er auf der richtigen Seite steht). Von geradezu verstörender Perfidie ist der folgende Absatz:

(§77) Die Erfahrungen des gewaltsamen Todes vieler Menschen im Krieg könnte aufgrund des Primats der Gewaltfreiheit zu der Forderung führen, auch in einem heißen Konflikt allein auf Verhandlungen zu setzen. Diese Sichtweise übersieht allerdings, dass solche Verhandlungen nur dann ethisch vertretbar sind, wenn sie sich innerhalb des internationalen Rechts bewegen, das heißt dem Schutz der territorialen Unversehrtheit und Selbstbestimmung dienen. Der Primat der gewaltfreien Lösung darf nicht gegen die Ethik rechtserhaltender Gewalt ausgespielt werden (...) Aufgezwungene Verhandlungen sind kein Weg zum Gerechten Frieden. Verhandlungen, die lediglich dazu dienen, die Ergebnisse militärischer Kriegsführung abzusichern, sind abzulehnen.

Aus der Formel vom „gerechten Frieden“ wird somit wieder ein bloßes Synonym bzw. ein Euphemismus für „gerechter Krieg“ und aus der Idee des ewigen Friedens die friedensethische Legitima on eines ewigen Krieges – denn Frieden gibt es, wenn er denn kommt, nur zu unseren Bedingungen. Man wüsste doch gern, wie viele Tote und Verstümmelte es bräuchte, bis der Rat der EKD sich dazu bequemte, seine kategorische Ablehnung aufzuweichen.
Die Ächtung von Atomwaffen hält die EKD zwar für ethisch geboten, politisch aber für unverantwortlich. Letztlich erliegt die EKD dem Mythos von der erlösenden Gewalt und kann sich scheinbar nicht zwischen der gelebten Friedenspraxis Jesu und einem aus der Zeit gefallenen Staatskirchentum entscheiden, de facto hat sie sich längst entschieden.
Dass die Denkschrift so ist, wie sie ist, hat natürlich mit dem Milieu zu tun, dem sie entspringt. Hier lässt es die Denkschrift an erfrischender Klarheit nicht fehlen:

(§13) … Die Nächsten können dabei, wie der matthäische Jesus in der Rede vom Weltgericht betont, auch genau die sein, an die man nicht als Erstes denkt (Matthäus 25,37 – 40), nämlich diejenigen, die am Rand der Gesellschaft stehen.

„… an die man nicht als Erstes denkt“ – so viel unfreiwillige Selbstentblößung ist natürlich einerseits recht unterhaltsam, andererseits ist die völlige Abwesenheit von Selbstreflexion über den eigenen Standort („man“ selbst steht offenbar felsenfest in der Mitte der Gesellschaft ) und dass niemand, der den Text vor seiner Drucklegung gelesen hat, an dieser Stelle die Reißleine gezogen hat oder ziehen durfte, höchst beunruhigend. Wie immer lohnt auch ein Blick auf die Autor:innen der Denkschrift (wie üblich am Ende mit Namen und Ort, aber ohne Funktion aufgeführt). Dirck Ackermann z.B. ist Leitender Militärdekan, Uwe Hartmann Oberst im Generalstab. Mit Andreas Dieterich, dem Referenten für Friedensarbeit an der Dresdner Frauenkirche, ist zumindest ein Vertreter der evangelischen Friedensarbeit mit im Boot. Wie schon 2007 war auch diesmal der Friedensbeauftragte der EKD nicht an der Abfassung der Denkschrift beteiligt, wurde aber durch das vorherige Abhalten von „Friedenskonsultationen“ eingebunden (clever!) und muss sich nun irgendwie loyal zu diesem Papier verhalten.
Auch die EKD-Friedensdenkschrift weiß, dass Frieden nur global, kirchlich gesprochen: ökumenisch zu realisieren ist. Inmitten einiger wohlfeiler Gemeinplätze blitzt dann sogar etwas wie Selbstkritik auf:

„Die weltweite Ökumene fordert dazu auf, die eigenen Theologien als kontextuelle und partikulare zu verstehen, die zugleich nach dem Gemeinsamen und Universalisierbaren im Angesicht des Evangeliums fragen.“ (S. 94)

Wo es allerdings konkret wird, ist es dann doch eher eine NATO-Ökumene, das (Uniform-)Hemd ist halt näher als der (Heilige) Rock:

„Die friedensethische Positionierung der EKD lässt sich … in die kontextbezogenen friedensethischen Diskussionen der weltweiten Ökumene, insbesondere auch der Nachbarkirchen im Norden und im Osten Europas, einordnen. So ringen z. B. auch die Kirchen in Schweden und Finnland, den jüngsten NATO-Mitgliedsstaaten … um eine theologisch-ethisch verantwortbare Haltung zum Thema Frieden.“ (S. 9)

Besonders beschämend ist die Desavouierung des Pazifismus durch die Denkschrift der EKD. Die Autor:innen machen sich erst den Pazifismus als gesinnungsethischen Exzess zurecht, um ihn dann umso einfacher widerlegen zu können. Das ist nicht nur theologisch und intellektuell unredlich, die „Würdigung“ des christlichen Pazifismus als „Ausdruck gelebter Frömmigkeit“ (S. 20) bzw. „als Ausdruck einer individuellen Glaubensüberzeugung“ (S. 125, der Ausdruck „Glaubensüberzeugung“ nur an dieser Stelle) ist überdies eine Beleidigung aller christlichen Pazifist:innen und aller echten Friedenskirchen.
Während in der Friedensdenkschrift von 2007 die friedensethischen Einsichten der Kirchen in der DDR noch ignoriert wurden (um sie dann nachträglich im Vorwort zu desavouieren) werden sie nun explizit verworfen:


(§177) … Vor diesem Hintergrund eines an Recht und Ethik gebundenen Dienstes in den Streitkräften ist der Einschätzung zu widersprechen, dass der Dienst ohne Waffe das deutlichere Zeichen des Christseins darstelle. Diese in der Situation einer Armee als Instrument einer Diktatur getroffene und darum sehr verständliche Feststellung, die in der Handreichung „Zum Friedensdienst der Kirche“ 1965 formuliert wurde, ist unter den Bedingungen des liberalen Rechtsstaats der Bundesrepublik und den Herausforderungen der Gegenwart nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Die paternalistische Hochnäsigkeit, die in diesem Abschnitt zum Ausdruck kommt, ist charakteristisch für die gesamte Denkschrift und etwa für ehemalige Bausoldaten ein Schlag ins Gesicht. Dass die Denkschrift ausgerechnet in Dresden vorgestellt wurde, ist dann wohl nur ein Backenstreich extra. Anders als die Vorgängerschrift von 2007, die etwas zu vollmundig noch „einen stellvertretenden Konsens für die ganze Gesellschaft“ formulieren wollte, bescheidet sich die Denkschrift von 2025 damit, Orientierung zu geben und zur Prüfung der eigenen Position einzuladen. Auch solch bescheidener Wunsch auf Resonanz setzt aber Substanz voraus, aus der erst Relevanz erwächst. Vielleicht springen nach Wiederaufnahme der Wehrpflicht (Zwangsdienste hält die Denkschrift für gemeinschaftstiftend, S. 16) wenigstens noch ein paar neue Militärseelsorgestellen heraus, dann hätte sich der Aufwand immerhin finanziell gelohnt.
Nicht zum ersten Mal stellt sich mir angesichts dieser westdeutschen NATO-Theologie (der Anklang an Nahtod-Theologie ist beabsichtigt) die Frage, ob diese evangelische Kirche überhaupt noch eine Zukunft hat und, schlimmer noch, ob das überhaupt wünschenswert wäre. Vielleicht muss diese gleichzeitig verzagte und sich grandios selbst überschätzende Beamt:innenkirche erst an ihren kollabierenden Pensionskassen zu Grunde gehen, damit geistlich und geistig etwas Neues wachsen kann.

PS: Der Westfälische Friedenspreis geht 2026 an die NATO und ausdrücklich auch an ihren großartigen Generalsekretär Mark Rutte. Was wohl das Känguru dazu sagen würde?