Neujahrsgruß


Liebe Freundinnen und Freunde in den Mitgliedsgruppen,
liebe Einzelmitglieder und Interessierte der IKvu:
 
Euch allen ein gesegnetes, spannendes und anregendes Jahr 2010!
 
Ob Engagement für Klimaschutz und nachhaltige Ökologie (zur Bewahrung der Schöpfung), ob Engagement gegen Rüstung und Krieg (für Frieden), ob Engagement gegen den immer größer werdenden Skandal des gleichzeitigen Anwachsens von Armut und Reichtum sowie für gute Arbeit und gelingendes Leben (für Gerechtigkeit) oder auch: gegen verkrustete und bornierte Amtskirchen (für die lebendige Gemeinde Jesu Christi): Zum Übergang in das 30. Jahr des Bestehens der IKvu sagen wir mit dem Autor des Hebräerbriefs: „Wir wollen durchhalten in dem Lauf, zu dem wir angetreten sind!“ (Hebr. 12,1).
 
Woher nehmen wir trotz aller Widrigkeiten und auch immer wieder aufkeimender Selbstzweifel die Zuversicht? Dazu möge das folgende Gleichnis Orientierung bieten. Ein Gleichnis, das viele Deutungsmöglichkeiten bietet, von der Ebene der Weltinnenpolitik (Staaten, Regierungen, Internationale Organisationen) bis hin zu politischen, sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Organisationssphären. In Abänderung eines Vorbehalts, wie er in vielen Polit-Krimis auf den ersten Seiten zu finden ist, bekennen wir uns schon vorab dazu: Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen bzw. Organisationen (die dieser oder jene von euch/Ihnen bei der Lektüre mit eigener Erfahrungssphären anzustellen geneigt sein könnte) ist beabsichtigt!
 
„Trotz alledem!“
Rosa Luxemburg an ihren Geliebten Paul Levi, 17. November 1917:
 
"Wenn ich blos einen Tag mal Ruhe hätte. Dieses verfluchte
geschäftige Umherjagen und Umherreden, bei dem die Dinge
 nicht vom Fleck kommen. Die ganze Zeit geht damit hin.
Jeden Tag ist jemand neuer „umgefallen“ und jeden Tag
giebt es neue Sauerei zu hören . . . Und mit solchen Leuten
soll man die Welt aus den Angeln heben?
Ich habe bald keine Geduld mehr u. keine Hoffnung,
mit der Armee Siege zu erringen.“
 
Aber sie schreibt auch:
 
„Mensch sein ist vor allem die Hauptsache. Und das heißt:
fest  und klar  und heiter sein, ja heiter trotz alledem,
denn das Heulen ist das Geschäft der Schwäche.“
 
In einem anderen Brief an Paul Levi, als Antwort auf seine Einschätzung der politischen Lage, schreibt Rosa Luxemburg:
 
„Deine tiefpessimistische Stimmung tut mir sehr weh . . .
Aber trotz allem muss man frisch und munter bleiben,
sonst kann man nichts ausrichten. Also Kopf hoch!"
 
Einen Antwortbrief über Persönliches und Politisches, den sie im Dezember1917 aus dem Gefängnis an Sonia Liebknecht schreibt, beschließt Rosa Luxemburg so:
 
„Sonjuschka. Liebste, seien Sie trotz alledem ruhig und heiter.
So ist das Leben, und so muß man es nehmen, tapfer, unverzagt
und lächelnd – trotz alledem!"
 
 
Trotz alledem, das heißt für uns: Frömmigkeit und politisches Handeln gehören immer zusammen. Wie bei Dorothee Sölle, deren Maxime lautete: „Theologisches Nachdenken ohne politische Konsequenzen kommt einer Heuchelei gleich. Jeder theologische Satz muss auch ein politischer sein“. Und die etwa auf dem 2. Friedenspolitischen Ratschlag 1995 in Kassel in einem Beitrag zur "wirtschaftlichen Alphabetisierung" den Ursachen von Gewalt und Krieg nachspürte und sagte: "Die Gewalt wohnt mitten in unserem Land, fett und behaglich. Das Mindeste, was wir als Christen mit unserer vorrangigen Option für die Gewaltfreiheit tun können, ist zu erkennen, wo sie wächst, wer sie akzeptabel macht und wer von ihr profitiert."
 
Trotz alledem – das sagen wir auch hinsichtlich der Ökumene. „Besichtigung einer Utopie“ ist der Untertitel des Buches „Einheit der Kirche“, in dem der evangelische Pfarrer Herbert Koch sich historisch-kritisch und gegenwartsbezogen mit dem Verhältnis der Kirchen zueinander auseinandersetzt und dafür plädiert, Ökumene „konstruktiv-subversiv“ voranzutreiben. Herbert Koch, mit dem die IKvu vor kurzem einen Abend in Frankfurt veranstaltete, konstatiert: „Ökumene an der Basis stellt einen Strang kirchlicher Tradition dar, der älter ist als die kirchenleitende Befassung mit der Ökumenethematik. Auch dies kann Anlass zu Selbstbewusstsein geben!“
 
Wir alle, Ihr und Sie, als Einzelne wie als Gruppen, dürfen in aller Demut auch ein wenig Stolz darauf sein, diese Tradition weitergeführt und gefestigt zu haben. Eine Tradition, über die der katholische Theologe Hermann Häring schreibt: „Die ökumenische Bewegung begann unter Randgruppen und religiösen Außenseitern, in Schützengräben und Gefangenenlagern, in Situationen politischer Ohnmacht und familiären Spannungen. Sie sprang auf Gruppierungen innerhalb christlicher Gemeinden, dann auf Gemeindens selbst über.“
 
Unter der Kapitelüberschrift „Ökumene – Wappnung zum Widerstand“ kommentiert Herbert Koch: „Wenn der Basis ökumenische Entwicklung eine Herzens- und Glaubenssache ist, so dass er die Ökumene über das von oben zugelassene Maß hinaus ernsthaft voranbringen will, der kann sich einfach gar nicht nur zurückziehen, sondern lässt sich um seiner positiven Beziehung zur Kirche willen auf Konflikte ein. Er wird sich deshalb klar machen müssen, dass er, sofern es um echte Grenzüberschreitungen geht, sich etwas auflädt, das einer großen inneren Freiheit und Stärke bedarf, um es durchzuhalten. Es erfordert einen Glauben jenseits dessen, was die Kirche für ihre Gläubigen als den allein zulässigen Glauben definiert hat.“
 
So wie beim Fußball nach dem Spiel vor dem Spiel ist, ist es bei Kirchens: Nach dem Kirchentag ist vor dem Kirchentag. Die schnelle Abfolge fordert uns wie Euch/Sie, macht Stress, beflügelt aber auch. Wir fühlen uns herausgefordert und – trotz alledem – auch stark genug, in dem Lauf durchzuhalten, in dem wir angetreten sind. Zum Übergang in das Jahr 2009 schrieben wir: „Von der IKvu wird gewiss erwartet (und von manchen befürchtet), dass sie beim Ökumenischen Kirchentag 2010 Akzente setzt, die an das 2003 in Berlin Erreichte anknüpfen. Wir werden diese Erwartungen nicht enttäuschen, wollen uns aber auch nicht wiederholen. Es gilt, zu neuen Ufern aufzubrechen und nicht in Ritualen zu erstarren.“ Dies gilt weiterhin. Wir sind an der Arbeit.
 
 
Halten wir durch, in dem Lauf, zu dem wir angetreten: Setzen wir in allem, was wir tun, was Ihr tut, dem spürbaren „Kältestrom“ in der Gesellschaft und auch hier und da in unseren Amtskirchen den „Wärmestrom“ der „konkreten Utopie“ (Ernst Bloch) entgegen, die wir – sola scriptura – begründen allein aus dem, „was Christum prediget und treibet“ (Martin Luther).
 
In diesem Sinne grüßen Euch herzlich für das gesamte Leitungsteam und freuen sich auf viele Begegnungen mit Ihnen und Euch - vielleicht bei der Delegiertenversammlung 16. – 18. April in Bonn ...
 
Eure
 
Wolf-Gunter Brügmann-Friedeborn
- Mitglied im Leitungsteam & Evangelische Wicherngemeinde FfM. -
 
und Bernd Hans Göhrig
- Bundesgeschäftsführer -