Neujahrsgruß


Liebe Freundinnen und Freunde in den Mitgliedsgruppen,
liebe Einzelmitglieder und Interessierte der IKvu,

am Beginn des noch jungen Jahres wünsche ich Euch – auch im Namen des Leitungsteams – ein gesegnetes, spannendes und erfolgreiches Jahr 2014!

Ich beginne meinen Neujahrsgruß mit einem längeren Zitat von Dietrich Bonhoeffer, dem wir uns 2013 gemeinsam mit Flois Knolle-Hicks in drei Veranstaltungen genähert haben; es ist der Schlussabschnitt aus „Nach zehn Jahren. Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943“:

„Es bleibt ein Erlebnis von unvergleichlichem Wert, dass wir die großen Ereignisse der Weltgeschichte einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden sehen gelernt haben. Wenn nur in dieser Zeit nicht Bitterkeit oder Neid das Herz zerfressen hat, dass wir Großes und Kleines, Glück und Unglück, Stärke und Schwäche mit neuen Augen ansehen, dass unser Blick für Größe, Menschlichkeit, Recht und Barmherzigkeit klarer, freier, unbestechlicher geworden ist, ja, dass das persönliche Leiden ein tauglicherer Schlüssel, ein fruchtbareres Prinzip zur betrachtenden und tätigen Erschließung der Welt ist als persönliches Glück. Es kommt nur darauf an, dass diese Perspektive von unten nicht zur Parteinahme für die ewig Unzufriedenen wird, sondern dass wir aus einer höheren Zufriedenheit, die eigentlich jenseits von unten und oben begründet ist, dem Leben in allen seinen Dimensionen gerecht werden, und es so bejahen.“

Dieser an der Jahreswende 1942/1943 geschriebene Text liest sich wie ein kritischer Kommentar zur Jahreslosung der Evangelischen Kirchen für das Jahr 2014. Sie lautet in der Einheitsübersetzung: „Gott nahe sein, ist mein Glück“ (Psalm 73,28) – eine Übersetzung, in der die Erfahrung der Gottesnähe verdinglicht wird zu einem flüchtigen Gut, ja zu etwas, das im Kontext des Psalms die „Gottlosen“ charakterisiert: „Von der Mühsal der Sterblichen sind sie frei, sie sind nicht geplagt wie andere Menschen. Darum ist Hoffart ihr Halsgeschmeide, Gewalttat das Gewand, das sie umhüllt“. „Immer im Glück, häufen sie Reichtum“ (Macht übersetzt die Bibel in gerechter Sprache; Verse 5, 6 und 12).

Indem die aus ihrem Zusammenhang gelöste Jahreslosung die emotionalen Begriffe Freude und Zuversicht durch Glück ersetzt, verliert sie nicht nur ihre uns inspirierende, ermutigende Kraft; sie verspielt auch die unsere Einstellung zur Wirklichkeit verändernde Kraft des Glaubens, die Bonhoeffer meint, wenn er vom Leiden als dem „Prinzip zur betrachtenden und tätigen Erschließung der Welt“ spricht: Glück „haben wir“, Freude und Leiden „empfinden wir“, an uns selbst und mit anderen. Beide sind unsere Befähigung, Anteil zu nehmen und uns durch etwas anderes als unser Selbstinteresse motivieren („bewegen“) und uns die Augen öffnen zu lassen.

Für einen Augenblick schien es so, dass der Tod von 350 Flüchtlingen, die in der Nacht des 3. Oktobers 2013 vor der Küste Lampedusas und den Augen der italienischen Marine ertranken, die europäische Öffentlichkeit und selbst Politiker zu einer nicht nur pflichtgemäßen Anteilnahme bewegten, sondern ihnen ihren politischen Zynismus und die menschenverachtenden Konsequenzen des europäischen Grenzsicherungsregimes vor Augen führten. Statt am 3. Oktober weiter die deutsche Einheit zu feiern, wäre es angemessener, diesen Tag als ersten gesamteuropäischen Gedenktag zur ständigen Erinnerung und Mahnung an die Menschenrechte aller Flüchtlinge zu begehen, die zu ignorieren und zu verletzen „Geist und Logik“ der europäischen Flüchtlings-Abschreckungspolitik bestimmen.

Vielleicht wird in einem künftigen Rückblick auf das Jahr 2013 der 11. Februar ein „historisches Ereignis“ genannt werden; an diesem Tag trat Papst Benedikt XVI. zurück, weil nach seinen eigenen Worten die „Kraft des Körpers und auch die Kraft des Geistes in den vergangenen Monaten in mir derart abgenommen“ haben, dass er sein „Unvermögen“ erkennen musste, „den mir anvertrauten Dienst weiter gut auszuführen.“ Dass der Rekurs auf die menschliche Schwäche und die daraus gewonnene Selbsterkenntnis als Grund für den Amtsverzicht öffentlich geäußert wird, lese ich als die implizite Kritik an einem Kirchenverständnis, das in der geweihten Amtsperson das Wesen der Kirche verkörpert sieht.

Die Tradition und Rechtfertigung ebendieses Kirchenverständnisses stand aber für den „Intellektuellen auf dem Papstthron“ im Mittelpunkt seiner lehramtlichen Äußerungen und diente der Stabilisierung des römisch-katholischen Selbstbewusstseins. Den Kern dieses Selbstbewusstseins bildet eine eigenständige „Kritik der Moderne“, die nach den Worten Friedrich Wilhelm Grafs begründet ist in der „klare(n) Botschaft, dass das Christentum eine Religion ist, die vor dem Forum der Vernunft verantwortet werden muss, dass ein vernunftloser, ein geistloser Glaube sehr schnell in Fanatismus und Intoleranz umschlägt. Dagegen hat der Papst sozusagen alteuropäische aristotelische Vernunfttraditionen ins Spiel gebracht.“ Dem wird niemand widersprechen wollen, solange ausgeblendet bleibt und nicht mitgedacht wird, dass in der gemäß der römisch-katholischen Dogmatik postulierten Einheit von Glaube und Vernunft auch der Grund dafür liegt, die Reformation und die Subjektivierung des Glaubens, die Französische Revolution und das Prinzip der Volkssouveränität, der Demokratie und den Pluralismus ethischer Überzeugungen als Fehlentwicklung der Moderne zu kritisieren und als Irrweg zu delegitimieren. Wenn Papst Benedikt gegen „die selbstverfügte Beschränkung der Vernunft auf das im Experiment Falsifizierbare“ die „Universalität der Vernunft“ gegen ihre positivistische Reduktion zurückfordert (so in der Regensburger Rede 2006), ist dies auch eine in meinen Augen berechtigte Anfrage an den Protestantismus, der sich nicht auf die „individuelle Freiheit des Gewissens“ und auch nicht auf eine Religion als „Wertelieferantin“ herunterbringen lassen will, der aber daran festhält, die säkulare Vernunft, die Menschenrechte und die plurale Öffentlichkeit als ein Kernstück der Moderne zu verteidigen.

Worin die modernen Wissenschaften und Techniken ihre Triumphe feiern, wurde uns im vergangenen Jahr auf drastische Weise vor Augen geführt. „Man hatte gedacht, George Orwell habe in ‚1984‘ das Maximum dessen dargestellt, was im Überwachungsstaat möglich sei. Es war darum ein böses Erwachen, als Edward Snowden die Machenschaften der NSA publik machte, und die Komplizenschaft von Telefongesellschaften offenlegte“ hieß es in einem Jahresrückblick der Neuen Züricher Zeitung (28. Dez. 2013, S. 23). „Der Bürger ist so gläsern, wie es niemand für möglich hielt.“ Diese Orwell’sche Zukunftsvision wird in diesem Jahre 2014 bereits 30 Jahre alt sein.

Im Licht der seit dem vergangenen Jahr bekannten Abhör- und Überwachungspraktiken sehen wir uns mit einer Säkularisierungsvariante ganz anderer Art konfrontiert, wenn wir uns einen der gewiss schönsten Trostpsalmen vor Augen stellen: Die Anfangsverse von Psalm 139 lauten in Luthers Übersetzung: „Herr du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht alles wissest“ (Verse 1-5). Können wir diesen Psalm noch unbefangen beten, wenn er uns in seiner technischen Realisierung als Sicherheitsversprechen und als Instrument der Gefahrenabwehr begegnet und wenn unsere Regierungen erwarten, dass wir unsere Rundumüberwachung im staatlichen und in unserem eigenen Interesse als unvermeidbar und bestenfalls unter verbesserter Kontrolle gefälligst hinzunehmen hätten? Was haben wir zu tun, wenn sich auch ein demokratischer Staat wie die USA als „sterblicher Gott“ (Thomas Hobbes) gebärdet und die geschätzten Verbündeten als nachgeordnete Marionetten ihrer imperialen Strategie behandelt?

Papst Franziskus zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie mit einem atemberaubenden Politikwechsel Reformpolitik und positive Imageveränderung möglich werden. In seinem apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ werden die theologischen Differenzen durch eine Rhetorik des Dialogs gleichsam „eingeklammert“ zugunsten einer Konzentration „auf die Überzeugungen, die uns verbinden“. Fragen des „ökumenischen Dialogs“ werden daher unter der übergeordneten Perspektive eines „sozialen Dialogs als Beitrag zum Frieden“ aufgenommen (Ab. 238ff). Bemerkenswert ist dabei die Formulierung, „der Einsatz für die Einheit“ sei „nicht länger bloße Diplomatie oder eine erzwungene Pflichterfüllung.“ Die Kirchen sollen sich in einer Haltung der Anerkennung und des wechselseitigen Lernens gegenübertreten, denn: „So zahlreich und so kostbar sind die Dinge, die uns verbinden! Und wenn wir wirklich an das freie und großherzige Handeln des Geistes Gottes glauben, wie viele Dinge können wir voneinander lernen! Es handelt sich nicht nur darum, Informationen über die anderen zu erhalten, um sie besser kennen zu lernen, sondern darum, das, was der Geist bei ihnen gesät hat, als ein Geschenk aufzunehmen, das auch für uns bestimmt ist“ (Ab. 246).

Zu welchem Lernen wird die Erinnerung an den Beginn des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren werden? Seit dem Streit um die Revision der Geschichtspolitik Mitte der 80iger Jahre, als der Angriffskrieg Deutschlands in einen Abwehrkrieg gegen den Bolschewismus umgedeutet werden sollte, wissen wir, dass Erinnerungspolitik ein Kampf um das kollektive, identitätsbestimmende Gedächtnis einer Nation ist. Die zwei Veröffentlichungen, die das Material für eine substanzielle Revision der Deutung des Ersten Weltkriegs bieten, ist zum einen das fast 900 Seiten umfassende Werk von Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den ersten Weltkrieg zog und das gleich umfangreiche Buch von Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914 - 1918. Beide sind sich einig in der Ablehnung der These, der erste Weltkrieg sei von Deutschland gleichsam „bei Gelegenheit“ inszeniert worden, um die weitreichenden Ziele für eine deutsche Vorherrschaft in Europa gewaltsam zu erreichen. Die alternative Deutung beider Autoren hat in jedem Fall das entschiedene und durch genaue historische Rekonstruktion begründete Plädoyer für „politisches Handeln“ statt „politischem Fatalismus“ und „strategischen Einkreisungsobsessionen“ für sich.

Heute werden wir mit dem semantisch-politischen Nachfolgekonzept „TINA – There is no alternative“ konfrontiert und wir dürfen zumindest die schwache Hoffnung äußern, dass die „alternativlos“ zustande gekommene Große Koalition durch die internen Profilierungsinteressen der beteiligten Parteien Entscheidungsalternativen sichtbar und politisches Handeln notwendig werden lässt. Dass die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg im Zeichen einer „gesamteuropäischen Kriegsschuld“ und dem kollektiven Versagen politischer Entscheidungsalternativen zu einem negativen europäischen Gründungsmythos benutzt werden wird, darf man annehmen; umso mehr wird es dann darauf ankommen, das andere Erinnerungsdatum immer mitzudenken: Der Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren und damit nur 25 Jahre nach dem ersten gescheiterten Versuch zur deutschen Vorherrschaft in Europa, war der nochmalige Versuch, Deutschland doch noch und endgültig als Weltmacht in Europa zu etablieren.

25 Jahre nach dem Fall der Mauer sind wir auch deshalb wieder mit den aktualisierten Erinnerungsgestalten deutscher Vorherrschaft in Europa konfrontiert, weil Deutschland sich zum radikalsten Verfechter einer „Rettungspolitik des Euro“ im Interesse der systemrelevanten Banken und eines „demokratischen Kapitalismus“ gemacht hat, die im Sieg Angela Merkels bei der Bundestagswahl gleichsam eine plebiszitäre Bestätigung erfahren hat. Einen unüberbietbar traurigen und skandalösen Tiefpunkt politischen Denkens stellt daher Merkels Forderung „Die Demokratie muss marktfähig werden“ dar. Der Erfolg dieser Begriffspolitik schlägt sich auf deprimierende Weise in dem zuletzt im Dezember durch eine Studie der Bertelsmann-Stiftung belegten Zusammenhang von Armut und Wahlenthaltung nieder.                 

Die IKvu versteht sich als gesellschaftspolitische und zugleich kirchenpolitische Akteurin – nun seit fast 35 Jahren. Daher stehen all diese Themen auch 2014 auf unserer Agenda.

Daher sitzt die IKvu aber auch zwischen allen Stühlen: kirchlich und gesellschaftlich engagiert, theologisch und politisch argumentierend, alt- und römisch-katholisch und protestantisch aufgestellt und im Dialog mit anderen Religionen, zugleich nicht institutionell eingebunden und keiner Partei angeschlossen. So fallen wir durch alle möglichen Raster und nehmen doch einen ganz bestimmten Platz ein.

Deshalb haben wir 2013 im Rahmen des Evangelischen Kirchentags in Hamburg bereits zum zweiten Mal den Dorothee Sölle-Preis vergeben – diesmal an die römisch-katholische Theologin Jutta Lehnert. Christlicher Fundamentalismus, Kirchenasyl und die Situation afrikanischer Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen, Islam in der Bundesrepublik, die Krise im Bistum Limburg und der neue Kurs in der römischen Kirche sowie das Erbe Dietrich Bonhoeffers waren unsere Themen im vergangenen Jahr, und sie werden uns auch weiterhin beschäftigen.

Ich hoffe, dass wir auf diese Weise „Kirche von unten“ als eigenständige Perspektive erkennbar machen können. Die IKvu ist dabei nicht groß und mächtig, sie verfügt nicht über einen großen Referentenpool und hat keine 100.000 Euro auf dem Konto. Sie bemüht sich so um Glaubwürdigkeit auf der Linie der „Option für die Armen“. Unsere Stärke ist es, punktuell auf drängende Themen hinzuweisen. Das verstehen wir als unsere Aufgabe.   

Zum Schluss möchte ich Euch noch recht herzlich zu unserer Frühjahrsversammlung 14.-16. März in Hannover unter dem Motto „Kirche und Staat in neuer Verfassung?“ einladen. Weitere Informationen dazu findet Ihr in Kürze wie gewohnt auf unserer Website www.ikvu.de.

 
Mit herzlichen Grüßen,
Andreas Seiverth, IKvu-Sprecher


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Frankfurt am Main, den 29. Januar 2014