Mit-Leiden und Sehen

Gedanken zum neuen Jahr 2021

Liebe Freundinnen und Freunde der Initiative Kirche von unten,
 
„Die Welt wird alt und wieder jung, Doch der Mensch hofft immer Verbesserung“ (Friedrich Schiller). Am Beginn eines jungen Jahres gilt es, die Hoffnungen und Gedanken zu sammeln, bevor es richtig wieder losgeht, nach einem merkwürdigen Jahr 2020, das sich wohl niemand so hätte vorstellen können. Wie also einen Anfang finden? Vielleicht mit geliehenen Worten, zum Beispiel aus der Jahreslosung für 2021:
 
Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!
(Lukas 6, 36)
 
Hier sind sich Luther- und Einheitsübersetzung im Wortlaut einmal einig. Und doch müssen wir uns dieser Einigkeit nicht anschließen. Anstoß könnte schon das Gottesbild geben – nicht, das Jesus den „Vater“ nicht vor Augen gehabt haben kann: hier war der Mensch Jesus ganz sicher Kind seiner (patriarchalischen) Zeit. Aber wir sind Kinder einer anderen Zeit – und müssen Gott nicht in Geschlechter-Kategorien (ob nun zwei oder mehr) einengen. Daher also die Übertragung in gerechter Sprache:
 
Habt Mitleid, wie auch Gott mit euch leidet.

 
Jetzt muss niemand sich herumärgern mit „Gender-Ideologie“ oder ähnlichem; das Wortspiel der Übertragung hat einen umso größeren Reiz. Und wird heutigen Sprachgewohnheiten vielleicht zugänglicher. Auch fehlt „Jesus spricht“. Aber brauchen wir diese Autorität, damit das Zitat richtig(er) wird?
 
Einen Moment Pause. Haben Sie, habt ihr etwas gemerkt? Haben Sie, habt ihr etwas vermisst? – Bei allem, was im vergangenen Jahr passiert ist: Sollten wir nicht gleich, sofort, ganz viel darüber reden? Wäre jetzt nicht Zeit für eine massive Selbstkritik, Ärger über uns selbst, durch unser fahrlässiges Handeln „das Virus“ nicht genügend eingedämmt zu haben? Oder ein massives, schonungsloses Buß-Gebet angesichts des inzwischen vielfach gepredigten „System-Zusammenbruchs“ [1], mindestens der drohenden wirtschaftlichen Apokalypse, die ein mikroskopisch kleiner Reiter vorantreibt? Oder muss nicht massiv in neue Utopien investiert werden, damit es morgen, irgendwann „nach Corona“ wieder besser – viel besser – wird. Müssen wir nicht gleichsam „Unsere Welt neu denken“ [2]? – Oder ist das jetzt nicht ein bisschen zuviel verlangt?
 
Vielleicht lässt sich mit der Jahreslosung viel kürzer fassen, was jetzt ansteht. Mit Mitleid könnten wir anfangen! Mit-leiden ist viel mehr als Beklatschen von Pflegekräften, oder die aus meiner Sicht widerwärtige „charity“ die für viele Wohlhabende eher Ablasshandel ist,  und strukturelle Ungerechtigkeiten nicht behebt. Und diese nehmen zu – oder sie werden in der (Dauer-)Krise nur massiver sichtbar. Mitleid ist – aus der Sicht Jesu – eben viel mehr: So wie Gott an deinem Leben, deinem Leid, Anteil nimmt, so hast auch Du Anteil daran zu nehmen. Am Leben und Leid anderer Menschen. Und noch nicht einmal nur der „Nächsten“.
 
Vermutlich hat es kaum jemand besser als Dietrich Bonhoeffer (1943) praktisch ausgelegt: „Wir sind nicht Christus, aber wenn wir Christen sein wollen, so bedeutet das, daß wir an der Weite des Herzens Christi teilbekommen sollen in verantwortlicher Tat, die in Freiheit die Stunde ergreift und sich der Gefahr stellt, und in echtem Mitleiden, das nicht aus der Angst, sondern aus der befreienden und erlösenden Liebe Christi zu allen Leidenden quillt. Tatenloses Abwarten und stumpfes Zuschauen sind keine christlichen Haltungen“ [3].
 
Was ist nun aber das Gegenteil von solcher erfüllender, aktivierender Anteilnahme? Mitleidlosigkeit, Passivität, mangelnde Solidarität – oder schlicht: Egoismus! Ob der Egoismus in der jüngsten Krise zugenommen hat, lässt sich objektiv schwer feststellen [4]. Egoismus ist aber gleichsam die „Erbsünde“ auch unseres Wirtschaftssystems. Nicht die Entdeckung des Individuums, der demokratischen Freiheit. Aber eben jenes „Ego“, das besitzen will, mehr als andere - kein Interesse hat an anderen Mitmenschen, am „Wir“ zeigt. Nicht mit-leiden möchte, sondern auf Abgrenzung setzt. Insbesondere nach unten. Schauerliche Zeugnisse sind z.B. unzählige Fernsehsendungen in „Reality“ oder Comedy-Formaten, in denen Horror-Gestalten präsentiert werden [5]  (Zugegeben: ich lache darüber auch). Die erzeugen bei uns das wohlige Gefühl: „Gott sei Dank sind wir nicht so wie die!“
 
Und wir sehen nicht, dass wir dabei kaum besser sind als jener hochmütige „rechtgläubige“ Pharisäer, der auf den sündigen Zöllner im Tempel herabschaut (Lukas 18, 10-14). Auch dieser Pharisäer ist letztlich egoistisch – seine überzogene demonstrative Glaubenspraxis, seine persönliche Rechtfertigung vor Gott steht an erster Stelle. Selbst vermeintlich frei von Sünde, ist der Zöllner für ihn ebenso abgeschrieben wie die Gesellschaft, die solche Typen erzeugt. Ob unsere Gesellschaft, wir selbst, die Politik noch Kraft aufbringen kann, hier nicht nur mit zu leiden, sondern auch zu handeln, damit Menschen solchen schlimmen Tätigkeiten oder auch elendig entlohnte „bullshit jobs“ nicht mehr erledigen müssen? Immerhin wurde jüngst sogar einer größeren demokratischen Partei angeraten, sich dem „Kampf gegen der Egoismus“ zu widmen [6]. So richtig ist nicht zu erkennen, ob das im Bundestagswahlkampf 2021 ein Thema sein wird.
 
Und damit sind wir beim „Sehen“. Denn in 2021 steht uns auch der 3. Ökumenische Kirchentag in Frankfurt/Main bevor. Mit dem Motto „Schaut hin!“ (Markus 6, 38). Und es ist vielleicht dieser Kontakt mit der Wirklichkeit, der auch den großen Kirchen gut täte. Schauen die Kirchenleitungen nur, oder sehen sie hin, nehmen sie selbst mit-leidenden Anteil? Vermögen Sie noch das Schauen auf sinkende Mitgliederzahlen, sinkende Geld-Einnahmen, gefährdete Besitzstände (die so nie vorgesehen waren) zu verlassen? Können Sie noch auf das schauen, was „draußen“ vor Domportalen und den Fenstern der Gemeinde-Zentren stattfindet? Vom Klimawandel, sozialem Elend global bis hin zum eigenen Stadtteil, und den immer noch leidenden, verletzten Betroffenen sexualisierter Gewalt?
Das alles ist nicht allein technisch zu lösen, nicht mit (noch mehr) Geld. Schon allein, weil die Machtstrukturen unangetastet bleiben. Zum Jahresanfang sind wir mit einem neuen Tiefpunkt des Umgangs mit sexueller Gewalt im Bistum Köln konfrontiert [7]. Auch das Verschleiern, das Verstellen der klaren Sicht, das die Täter und ihre Vorgesetzten schützt, bezeugt scheußlichen menschen-verletzenden Egoismus.
 
Nun ist das befohlene (Hin-)Sehen in der Bibel gar nicht so selten, ganz besonders in der hebräischen Bibel nicht. Und in anderen, prophetischen Kontexten noch weitaus härter. Aber diesen wollte sich der ÖKT wohl nicht stellen. Während z.B. Loths Frau das Sehen auf das untergehende Sodom nicht überlebte, sollte das Sehen auf das schlechte Beispiel bei Hesekiel eine wichtige Rolle spielen: „So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Sodom, deine [Jerusalems] Schwester, samt ihren Töchtern hat's nicht so getrieben wie du und deine Töchter. Siehe, das war die Schuld deiner Schwester Sodom: Stolz und alles in Fülle und sorglose Ruhe hatte sie mit ihren Töchtern; aber dem Armen und Elenden halfen sie nicht, sondern waren hoffärtig und taten Gräuel vor mir. Darum habe ich sie auch hinweg getan, wie du gesehen hast.“ (Hesekiel 16, 48-50).
Man muss das keineswegs auf Kapitalismus-Kritik übertragen und verkürzen; wer die Bibel insgesamt aber als Heilige Schrift betrachten will, kann brutale Marktmacht und geldgeilen Egoismus, und die Unerlassene Hilfeleistung gegenüber verelendeten Geflüchteten nicht religiös bemänteln und als Christ*in gut heißen. Das scheitert nicht an „political correctness“ oder „linker Meinungsmache“ – sondern an der Wirklichkeit. Hier und heute. Beim ÖKT mag das seine Rolle spielen. In den Sonderrealitäten sogenannter Konservativer, rechter Christ*innen und frommer Rechtsextremer nicht. Hier kann man auch mitleidlos junge Menschen herabwürdigen, die sich gegen den Klimawandel engagieren, der sie eben stärker betrifft als heute schon alte (vor allem!) Männer [8].
 
Mit-Leiden und Sehen – zwei Leitplanken in der schwierigen Gemenge-Lage, im „dynamischen Geschehen“ am Anfang des Jahres 2021. Welchen Weg vorwärts wir dazwischen nehmen, bleibt unsere Sache. Aber darauf vertrauen, dass Gott eine Fahrbahnmarkierung einzeichnet, das sollten wir: „Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr's denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde“ (Jesaja 49, 18-19).

Damit wünschen wir ihnen und euch eine erfüllende Erkundung neuer Wege in 2021. Und natürlich bleibende Gesundheit!

Ihr/Euer
Sebastian Dittrich

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Verweise

 

  1. Miegel, Meinhard. 2020. Das System ist am Ende. Das Leben geht weiter. Oekom, München.
  2. Göpel, Maja. 2020. Unsere Welt neu denken. Ullstein, Berlin.
  3. Bonhoeffer, Dietrich. 2019 (1951). Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. 23. Aufl. Gütersloher Verlagshaus.
  4. https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-12/egoismus-corona-krise-psychologie-solidaritaet-verhalten – letzter Zugriff: 4.01.2020
  5. z.B. https://www.youtube.com/watch?v=dHSgnWTbue8 – letzter Zugriff: 4.01.2020
  6. https://www.vorwaerts.de/artikel/spd-egoismus-kampf-ansagen – letzter Zugriff: 4.01.2020
  7. https://www.deutschlandfunk.de/causa-woelki-kirchenrechtler-es-ist-ein-moralischer.694.de.html?dram:article_id=489359 – letzter Zugriff: 4.01.2020
  8. https://uebermedien.de/34988/die-unbaendige-wut-erwachsener-auf-jugendliche-die-sich-engagieren/ –  letzter Zugriff: 4.01.2020


Fast alle Bibelzitate folgen der Übertragung von Martin Luther (revidierte Fassung 2017).