Du bist ein Gott, der mich sieht.
Gedanken zum Beginn von 2023
Liebe Freundinnen und Freunde der Initiative Kirche von unten,
„Du bist ein Gott, der mich sieht.” (Genesis 16, 13)
So der verkürzte Bibelvers, welcher der Jahreslosung für 2023 zu Grunde liegt. Dazu vermeldete eine Exegetin vorab, es sei die erste Jahreslosung, in der die Worte einer Frau zitiert würden [12]. Das ist ja schon etwas – aber wenn's schon Frauenworte sind, muss es dann doch die herkömmliche Einheitsübersetzung sein, die Gott geschlechtlich, männlich, bleiben lässt. Aber wir wollen uns doch etwas mehr von dem Text in Genesis 16 – noch dazu in der Übertragung in gerechter Sprache – gönnen:
Adonajs Bote fand sie an einer Wasserquelle in der Wüste, an der Quelle auf dem Weg nach Schur, und sprach sie an: »Hagar! Du Sklavin Sarais, woher kommst du und wohin willst du?« Sie sagte: »Weg von Sarai, meiner Herrin! Ich bin auf der Flucht.«
Da sprach Adonajs Bote zu ihr: »Kehr zurück zu deiner Herrin und lass dich von ihrer Hand demütigen.« – Da sprach Adonajs Bote erneut zu ihr: »Ungeheuer vermehren will ich deine Nachkommen, so dass man sie vor Menge nicht zählen kann.« – Da sprach Adonajs Bote wieder zu ihr: »Sieh dich an, du bist schwanger und wirst einen Sohn gebären, den sollst du Ismaël nennen, ›Gott hört‹, denn Adonaj hat deine Demütigung gehört. Der wird ein Wildesel-Mensch sein, er gegen alle, und alle gegen ihn. Allen Kindern Sarais und Abrams zum Trotz wird er sich niederlassen.« Da schließlich gab sie Adonaj, der Gottheit, die mit ihr redete, einen Namen: »Du bist El Roï, Gottheit des Hinschauens.« Denn sie sagte: »Sogar bis hierher? Ich habe geschaut hinter der her, die mich anschaut.«
Genesis 16, 7-13
Sehen oder schauen? Der Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt baut allwöchentlich in seine Filmanalysen ein bekanntes Zitat des sowjetischen Filme-Machers Andrei Arsenjewitsch Tarkowski ein: „Wir schauen nur, aber wir sehen nicht“. „Schauen“ meint hier oberflächliches Betrachten, sich unterhaltsam berieseln lassen, unterschwellige Ideologien zu übersehen – während „Sehen“ mit Schmitt eher als Aufgeklärt-Werden, Erkennen von Miss-Ständen und ökonomisch-politischen Machtverhältnissen zu verstehen ist [13]. Ich will darauf vertrauen, dass Gott in diesem Sinne nicht schaut sondern „sieht“, und sogar hört – sich nicht nur vom menschlichen Treiben unterhalten lässt, sondern Anteil nimmt. Und ich möchte unterstellen: Die Übersetzer*innen der Bibel in gerechter Sprache werden es auch nicht anders gemeint haben. Ich möchte aber dann doch beim „Sehen“ bleiben. Und wenn uns auch der göttliche Durchblick naturgemäß fehlt, so mögen wir doch gerade auch in der Bibel, in den Worten der Propheten, Jesu selbst einige Seh-Hilfen bekommen.
Nicht nur jene, die sich Christ*innen, oder gar Christ-Demokrat*innen nennen, haben das bitter nötig. Und da könnte man schon mit der Politik, also den im Wortsinne „Staats-Angelegenheiten“ beginnen. Klar dürfte sein: Wer „wokeness“ und Gender-gerechtes Verhalten und Sprache als die eigentlichen Gefahren für unsere Gesellschaft ansieht, nicht aber irregeleitete „Reichsbürger“- und natürlich den Klimawandel – [6] der*die hat mehr als ein Problem mit einer schmutzigen Brille. Und auch ein ehemaliger Bundespräsident und Theologe Joachim Gauck, nun offenbar spät berufener Politikwissenschaftler, Wehrexperte und Küchenpsychologe, hat den Durchblick eher nicht: Nein, die aktuellen Aktionen der letzten Generation seien unangemessen, „Fridays for future“ könnten hingegen Sympathien mobilisieren (vor allem seine?) [11].
Der menschengemachte Klimawandel mag ein ernstes Thema bleiben – aber doch nicht so ernst, dass unser kapitalistisch-fossiles Gesellschaftsmodell dadurch ernsthaft in Frage gestellt werden darf. Das würde Sympathien kosten. Ganz gleich, wie endlich die dafür nötigen Ressourcen auch immer sein sollten – und wie eindeutig absehbar und bedrohlich sein Ende [4]. Man könnte sich ja auch fragen, ob wir in wenigen Jahrzehnten noch Erbsensuppe übrig haben, um sie nach etwas zu werfen. Oder irgendwelche Ressourcen, um wertvolle Kulturgüter überhaupt noch zu erhalten.
Überhaupt fällt so manche Wirtschaftskritik, die auch aus beiden großen Kirchen und ihren Werken (Caritas, Diakonie) immer mal wieder ertönt, auf diese selbst zurück. Da werden „Auswüchse“ des Kapitalismus deutlich angesprochen, das zu Grunde liegende System aber als gegeben hingenommen. Man stützt es ja im Grunde selbst, etwa durch Finanzinvestments der kirchlichen Haushälter*innen – wohl wissend, dass Renditen und Zinsen nur durch Wachstum generiert werden können. Dafür kann es aber in einer Welt endlicher Ressourcen keine realistische Grundlage mehr geben [4].
Und da beide Kirchen offenbar gar nicht mehr an das Eintreten des „jüngsten Tages“ glauben, müssten sie weitaus konsequenter im Jetzt für grundlegende wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen eintreten. Dann dürfte es aber nicht bei verbaler Solidarisierung mit der „Letzten Generation“ oder „Ende Gelände“ bleiben [3], auch nicht bei lobenswerten Initiativen für Klimaschutz und Biodiversität (oft auch nur als Projekt gefördert) oder zum „Anders Wachsen“ (was eben nicht geht). Was sollte uns hingegen als einzelne daran hindern, uns im Bündnis mit Anderen für Reformen einzusetzen, die mehr als die „gute alte Zeit“ eines sozial gebändigten Nachkriegskapitalismus wiederherstellen? Für eine grundlegend neue, solidarischen Ökonomie bräuchte es größere Anstrengungen [2]. Darbende Mieter*innen und immer mehr „Tafel“-Kund*innen sind sie aber ebenso wert wie schlecht entlohnt schuftendes Pflegepersonal – oder vermeintlich „illegal“ einwandernde Armuts- und Klimawandel-Betroffene.
Auch aus demografischer Sicht gilt das noch junge Jahr 2023 als ein Kipp-Punkt [7]; zugleich haben die einst großen Kirchen noch immer die Erkenntnis zu verdauen, jetzt in einer Minderheitenposition zu sein und mit einer immer größeren Zahl von Austrittswilligen umgehen zu müssen [1]. Mag sein, dass auch die Kirchen letztlich sehenden Auges in diese Notlage geraten sind. Aber was tun? Es ist ein altbekannter, letztlich konservativer Reflex, nun wieder zu einem verstärkten Bekennen aufzurufen [9], Kirche also wieder sichtbarer zu machen. Aber was soll denn bekannt werden? Die Schöpfung in sieben Tagen á 24 Stunden? Unbefleckte Empfängnis, gar das apostolische Glaubensbekenntnis bis auf Punkt und Komma zu bekennen: Welcher vernünftige Mensch könnte das noch uneingeschränkt [5]? Und wollen wir das überhaupt im Namen von Institutionen tun, die wir oft gar nicht mehr für heilig halten, für die wir uns allzu oft schämen? Sei es nun für nicht abreißende Skandale im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt – oder bisweilen schlicht peinliche und inhaltsleere Auftritte von Kirchenleitungen [10]?
Nein, ich glaube nicht, dass Jesus Bekenntnis eingefordert hat. Vielmehr Solidarität, Beistand, Handeln in seiner Nachfolge – orientiert an seinem Beispiel. Das geht auch ohne Kirchen. Und der Gedanke, dass es auch außerhalb von Kirchen Erlösung geben könnte – der ist so neu auch nicht [8]. Die entsprechenden Machtmittel haben die Kirchen zumindest im westeuropäischen Raum längst und weitgehend verloren. Und so will ich nicht nur auf eine*n Gott vertrauen, der oder die sieht – sondern auch menschlich zu uns spricht. Und uns als Nachfolger*in, als einzelne zum Handeln ermächtigt:
Seht, ich habe euch Macht gegeben, zu treten auf Schlangen und Skorpione, und Macht über alle Gewalt des Feindes; und nichts wird euch schaden. Doch darüber freut euch nicht, dass euch die Geister untertan sind. Freut euch aber, dass eure Namen im Himmel geschrieben sind.
Lukas 10, 19-20
Wir schauen nur, aber wir sehen nicht – Nein: Weil Gott auf uns schaut, müssen wir selbst neu sehen lernen. Und viel gibt es zu sehen und zu tun – in diesem neuen Jahr 2023!
Wir wünschen Ihnen und euch dabei alles Gute.
Sebastian Dittrich
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Quellen:
- Bertelsmann Stiftung (Hg.) 2022. Religionsmonitor kompakt. Die Zukunft der Kirchen – zwischen Bedeutungsverlust und Neuverortung in einer vielfältigen Gesellschaft. Download: www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/51_Religionsmonitor/Religionsmoni_kompakt_final2.pdf
- Blakeley, Grace. 2019. Stolen. How to save the world from financialisation. Repeater, London: 316 S.
- Chrismon 12/2022: Keine Gewalt gegen Menschen. Interview mit Anna-Nicole Heinrich und Charly Dietz.
- Herrmann, Ulrike. 2022. Das Ende des Kapitalismus: Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden. Kiepenheuer & Witsch, Köln: 340 S.
- Koch, Herbert. 2019. Was Christen nicht glauben. Von A bis Z. Radius Verlag, Stuttgart: 164 S.
- von Lucke, Albrecht. 2023. Ukrainekrieg und Klimakrise: Die geschürte Polarisierung. Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2023: 7-10.
- Schulz, Stefan. 2022. Die Altenrepublik. Wie der demographische Wandel unsere Zukunft bedroht. Hoffmann und Campe, Hamburg: 223 S.
- Warfield, Benjamin B. 2019. Augustine and the Pelagian Controversy. The Doctrines and Theology of Pelagius in the Early Christian Church. Lulu.com, Morrisville: 104 S.
- www.domradio.de/artikel/wie-die-kirche-aus-der-bekenntniskrise-kommen-kann – letzter Zugriff: 1.01.2023
- www.ikvu.de/kontexte/texte-personen/kommentar2021-03-dittrich.html – letzter Zugriff: 1.01.2023
- www.rnd.de/politik/joachim-gauck-interview-ueber-ukraine-krieg-rechte-demokratiefeinde-und-klimaproteste-ZFXOWJ32HJC4RCMW3GTHGEN4OU.html – letzter Zugriff: 26.12.2022 (am 24.12. in diversen Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland gedruckt)
- www.sonntagsblatt.de/jahreslosung-2023-gott-genesis – letzter Zugriff: 1.01.2023
- www.youtube.com/@Filmanalyse – letzter Zugriff: 1.01.2023