„Eine große Tür hat sich mir aufgetan“

Gedanken zum neuen Jahr 2024 von Sebastian Dittrich

 

Liebe Freundinnen und Freunde der Initiative Kirche von unten,

Ein neues, junges Jahr. Wieder einmal. Wie ist das für Sie, für euch? Sind manche Hoffnungen aus dem alten Jahr noch lebendig? Werden die guten Vorsätze heute noch befolgt? Haben wir überhaupt welche? – Manchen von uns sind vielleicht Vorgaben lieber. Oder wenigstens Anregungen. Da mag die Jahreslosung 2024 ganz gut passen:
 
„Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“
1. Korinther 16,14

Da ist es wieder – so ein kleines Fragment, das sich bequem aufsagen lässt. Und vielfältig ge- und missbrauchen. Sicher waren und sind beispielsweise manche Kinder-prügelnden Eltern überzeugt, das mit Liebe zu tun. Von der (zumindest sehr wahrscheinlichen) Autorenschaft des Paulus einmal abgesehen: Sind wir heute genauso von einem überlieferten Brief angesprochen, der doch zunächst ganz andere Menschen in einer anderen Zeit gemeint hat? Denn wenn wir uns ein paar Sätze mehr aus dem Kontext gönnen, noch dazu in anderer Übertragung (in Gerechter Sprache), klingt das so:

Eine große Tür hat sich mir aufgetan, die einflussreiche Wirksamkeit verheißt. Und es gibt viele, die dies verhindern wollen.
Wenn Timotheus zu euch kommt, achtet darauf, dass er ohne Angst bei euch sein kann. Er arbeitet ebenso für die Ewige wie ich.
Keinesfalls soll ihn jemand verachten. Gebt ihm das Geleit in Frieden, damit er zu mir kommen kann. Ich erwarte ihn nämlich mit den Geschwistern.
Wegen des Bruders Apollos: Ich habe ihn inständig gebeten, mit den Schwestern und Brüdern zu euch zu gehen. Doch er wollte durchaus nicht jetzt kommen. Er wird kommen, sobald er Gelegenheit findet.
Seid wachsam, seid fest in eurem Vertrauen, verhaltet euch mutig, seid stark.
Alles, was ihr tut, tut mit Liebe.

1. Korinther 16, 9-14

Es geht also ganz offensichtlich um Integration von Außenstehenden, um gute Aufnahme von Fremden und eine Konfliktlösung. So weit, so gut. Das Reden von „Liebe“ setzt aber sicherlich voraus, was Paulus drei Kapitel vorher in seinem „Hohelied der Liebe“ ausgeführt hat:

Die Liebe hat einen langen Atem und sie ist zuverlässig, sie ist nicht eifersüchtig, sie spielt sich nicht auf, um andere zu beherrschen.
Sie handelt nicht respektlos anderen gegenüber und sie ist nicht egoistisch, sie wird nicht jähzornig und nachtragend.
Wo Unrecht geschieht, freut sie sich nicht, vielmehr freut sie sich mit anderen an der Wahrheit.
Sie ist fähig zu schweigen und zu vertrauen, sie hofft mit Ausdauer und Widerstandskraft.
Die Liebe gibt niemals auf. Prophetische Gaben werden aufhören, geistgewirktes Reden wird zu Ende gehen, Erkenntnis wird ein Ende finden.

1. Korinther 13, 4-8

Die Liebe gibt niemals auf – oder hört niemals auf, nach anderen Übertragungen. Das will ich gern glauben, so wollen es auch unzählige Paare glauben, die sich unter diesem Spruch noch immer trauen lassen. Die Liebe gibt niemals auf. Menschen kann die Ausdauer hingegen verlassen. Und die Liebe endet nicht, mag aber in manchen menschlichen Beziehungen erlöschen. Und – wie uns in diesen Tagen immer deutlicher wird: auch Kirchen können langfristig erlöschen. Die Ergebnisse der jüngsten Kirchenmitgliedschafts-Untersuchung deuten klar darauf hin. Wie es dazu gekommen ist, wie abgeholfen werden kann – das kann lang diskutiert werden.
Sicher wird es aber auch mit dem Verspielen von Vertrauen zu tun haben, dass Liebe gepredigt, aber persönlich nicht erlebt wurde. Oder gar schrecklich pervertiert, als Teil von Machtmissbrauch und sexueller Gewalt [10]. Da können Kirchenmänner in traditionalistischen Blättchen noch so sehr verkünden, dass die Liebe ihr großes Lebensthema sei [2] – ihre Glaubwürdigkeit mag für viele Menschen die gleiche sein wie die eines Stasi-Ministers Erich Mielke: „Ich liebe, ich liebe doch alle, alle Menschen“ [3] – Wohl wissend, wie viele Leben diese Liebe mit Zersetzungs-Aktionen und Unrechtsprozessen zerstört hat. Da wurde die Menschenliebe (Gottes-Liebe kann es hier kaum gewesen sein) wohl doch mit der Liebe zum Unrechtsregime verwechselt, dessen Zeit gezählt war.

Mit neuen Unrechtsregimen haben wir es ohnehin wieder genug zu tun – den alten, den erstarkenden, oder auch (mit Blick auf bestimmte Parteien) neu entstehende autoritäre Herrschaften [13]. Es sind nicht zuletzt „christ-“demokratische Politiker*innen, die es an Liebe vermissen lassen, sich zu (auch taktischer) Menschenfeindlichkeit hinreißen lassen – von verhetzenden Kulturkämpfen [11] bis hin zum Ruf nach physischer Gewalt gegen Migrant*innen [4]. – Aus „Liebe“ zur Nation oder einer vermeintlichen Leitkultur? Wäre es nicht vielleicht sogar besser, die Leidenschaft herunter zu kühlen, „vernünftiger“ zu werden – und mit einem eher naturwissenschaftlichen, analytischen Blick die Zukunftsprobleme anzugehen?

The real problem of humanity is the following: we have Paleolithic emotions, medieval institutions, and god-like technology.
Edward Osborne Wilson, 2009 [12]

Nein, von der „altsteinzeitlichen“ Emotion der Liebe können wir kaum lassen – aber es bräuchte doch wenigstens gegenwärtige, freiheitliche Institutionen, sie gesellschaftlich wirksam werden zu lassen, dass wir gemeinsam einen Status erlangen können, der unseren technischen Möglichkeiten entspricht. Ob die Kirchen und ihre Werke noch dazu gehören? Gott-gleich, das werden wir (hoffentlich) nicht. Noch nicht einmal mit biologischer Hoch-Technologie wie der „CRISPR “-Gen-Schere. Besser vielleicht: Gott- oder Göttinen-ähnlich in der Fähigkeit, gut und vielfältig zu lieben und liebend zu handeln.
Mit Liebe handeln hieße ja zunächst einmal, über das „Funktionieren“ hinauszugehen, aus einem kalten, brutalen, geistlosen Überlebensmodus herauskommen, der gerade auch unsere aktuellen politischen Diskussionen bestimmt. Härte gegen die Schwachen, Hass gegen Störer des Status quo („Klimakleber“). Rückzug ins Private, das in-Ruhe-gelassen-werden-Wollen. Alles durch jüngere Studien gut belegt [8]. Man mag hier im Extremfall eine Gesellschaft sehen, die gleich der Reisegesellschaft der Titanic dem Eisberg entgegen fährt und sich für unsinkbar halten will [5].
Sicherlich hat all das Nichts-Tun, der verbreitete Realitätstrotz mit der Liebes-Definition nach Paulus nichts zu tun. Ob das bei den zahlreichen Auslegungen der Jahreslosung immer mit bedacht wurde? Oder wird Liebe hier – in Übertragung der Einheitsübersetzung – nur als etwas verstanden, dass irgendwie „geschieht“ aber nicht im Handeln wirksam wird?

Fast wie eine Antwort auf Paulus klingt da hingegen ein über 20-jähriger britischer Popsong:

I refuse to give up
I refuse to give in
You're my everything
I don't wanna give up
I don't wanna give in
So everybody sing

One love for the mother's pride
One love for the times we cried
One love gotta stay alive
I will survive
One love for the city streets
One love for the hip hop beats
One love oh I do believe
One love is all we need

Ich weigere mich, aufzugeben
Ich weigere mich, nachzugeben
Du bist mein alles
Ich weigere mich, aufzugeben
Ich weigere mich, nachzugeben
So singt alle:

Eine Liebe für den Stolz der Mutter
Eine Liebe für die Zeiten, die wir geweint haben
Eine Liebe muss am Leben bleiben
Ich werde überleben
Eine Liebe für die Straßen der Stadt
Eine Liebe für die Hip Hop Töne
Eine Liebe, ich glaube daran:
Eine Liebe ist alles was wir brauchen

Blue, One Love (2002) [1]

Was vier recht attraktive, dem damaligen Massengeschmack kompatible junge Männer damals dahin gesungen haben, klingt wie das ferne Echo eines in Irrsinns-Fluten versunkenen Landes (Ob uns das auch noch bevorsteht?). Und wird heute zu einer ernsten Herausforderung. Ohne so gedacht gewesen zu sein. Und auch der Brief an die Korinther meint ja erst einmal nicht uns. Aber – lassen wir uns doch mit-meinen, mit-lieben. Weil wir es auch brauchen.

„Alles, was ihr tut, tut mit Liebe“ – Was für die Korinther Gemeinde mit apokalyptischer Nah-Erwartung gilt, müsste doch umso mehr für uns gelten, um dem Eintritt einer menschengemachten Apokalypse zu entgehen. Für dieses junge Jahr und alle, die noch vor uns liegen, bis zum Anbruch eines liebenden allumfassenden Lichts, dass vielleicht am Ende unseres Lebens steht – und die Ewigkeit sein könnte [7]. Mag unsere jeweilige, individuelle Zeit nun kürzer oder länger sein – „Eine große Tür hat sich mir aufgetan, die einflussreiche Wirksamkeit verheißt“. Jenseits des Gegeifers sozialer Medien. Und eine Kirchentür muss damit auch nicht gemeint sein. Aber in diesen Tagen wagen sich viele durch die Tür. Raus in die Gesellschaft, gegen Hass und Gewalt.

Hast du nur noch einen Tag
Nur eine Nacht dann
Lass es Liebe sein
Hast du nur noch eine Frage
Die ich nie zu fragen wage dann
Lass es Liebe sein

[...]

Das ist alles, was wir brauchen
Noch viel mehr als große Worte
Lass das alles hinter dir
Fang nochmal von vorne an.

Denn: Liebe ist alles...
Rosenstolz, Liebe ist alles (2004) [9]

Wir wünschen ihnen und euch in diesem Sinne ein gesegnetes neues Jahr, mit liebendem Handeln und bestärkenden Liebes-Erfahrungen.

Ihr/Euer
Sebastian Dittrich

 

Quellen:

[1] Blue 2002. One Love. (Autoren: Duncan James, Lee Ryan, Simon Webbe, Antony Costa, Mikkel S. Eriksen, Tor Erik Hermansen, Hallgeir Rustan). Innocent Records.

[2] Gänswein, Georg. 2023. Ein Blick sagt mehr als Tausend Worte. - GranDios 5/2023

[3] www.youtube.com/watch – letzter Zugriff: 5.01.2024

[4] www.thepioneer.de/originals/thepioneer-briefing-business-class-edition/podcasts/mit-physischer-gewalt-irregulaere-migrationsbewegungen-aufhalten – letzter Zugriff: 5.01.2024

[5] www.youtube.com/watch – letzter Zugriff: 5.01.2024.

[6] www.youtube.com/watch – letzter Zugriff: 5.01.2024.

[7] Koch, Herbert. 2016. Gott wohnt in einem Lichte... Nahtoderfahrungen als Herausforderung für die Theologie - Gütersloher Verlagshaus: 143 Seiten.
     
[8] Mau, Steffen; Lux, Thomas; Westheuser, Linus. 2023. Triggerpunkte : Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft. Suhrkamp, Berlin: 532 S.

[9] Rosenstolz. 2004. Liebe ist alles (Autor:innen: Peter Plate, Ulf Leo Sommer, AnNa R.). Universal Music.

[10] Schüller, Thomas. 2023. Unheilige Allianz : warum sich Staat und Kirche trennen müssen. Hanser, München: 207 S.

[11] Stöcker, Christian. Der »Krieg gegen Weihnachten«, ein importiertes Märchen – www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/kulturkampf-der-krieg-gegen-weihnachten-ein-importiertes-maerchen-der-rationalist-kolumne-a-7fee3a25-fdb5-4f22-8549-1b6d14ebb014 – Letzter Zugriff: 17.12.2023

[12] Wilson, Edward Osborne, debate at the Harvard Museum of Natural History, Cambridge, Mass., 9. September 2009 – Zusammenfassung: www.harvardmagazine.com/2009/09/james-watson-edward-o-wilson-intellectual-entente – letzter Zugriff: 5.01.2024

[13] Wolkenstein, Fabio. 2022. Die dunkle Seite der Christdemokratie: Geschichte einer autoritären Versuchung. C.H. Beck, München: 222 S.