Prüft alles und behaltet das Gute!
(1. Brief an die Thessalonicher 5,21)
Liebe Freundinnen und Freunde der Initiative Kirche von unten,
Ein neues Jahr beginnt. Und – die Jahreslosung aus einem der (sehr wahrscheinlich) authentischen Paulus-Briefe könnte kaum besser passen. Scheinbar. „Prüft alles und behaltet das Gute!“ sagt die Einheitsübersetzung; „Prüft aber alles und das Gute behaltet“ so die revidierte Übertragung nach Martin Luther. Aber was ist zu prüfen? In diesen Zeiten der Unsicherheit alles Mögliche. Und auch mit Blick auf die Vergangenheit: Es war ja nicht alles schlecht... (am Nationalsozialismus? Am real existierenden Sozialismus?) und für die Zukunft: ...hatte auch der Kapitalismus sein Gutes? Das alles mag der Briefschreiber – der Tradition nach der historische Paulus [5] – wohl nicht im Sinn gehabt haben.
Es ist wie fast immer mit den Losungs-Fragmenten: Ohne Kontext fehlt doch Einiges. Also noch einmal mit dem textlichen Rahmen (nun in gerechter Sprache):
Wir bitten euch, Brüder und Schwestern: Bringt die, die keine Regeln einhalten, auf den richtigen Weg, ermutigt, die in Angst leben, kümmert euch um die Schwachen, habt mit allen Geduld.
Passt auf, dass niemand Böses mit Bösem an anderen vergilt, sondern sucht immer das Gute untereinander und bei allen.
Freut euch immer,
hört nicht auf zu beten,
sagt Dank in jeder Lage, denn dies will Gott von euch in Christus Jesus.
Löscht die Geistkraft nicht aus,
verachtet Prophezeiungen nicht,
doch prüft alles und behaltet das Gute.
Von jeder Gestalt des Bösen haltet euch fern.
Gott selbst ist der Frieden und möge euch durch und durch heiligen, und ihr sollt an Geist, Seele und Körper unverletzt bewahrt bleiben, so dass nichts an euch auszusetzen ist bei der Ankunft Jesu Christi, dem wir gehören.
Gott hat euch berufen, ist treu und wird dies tun.
Schwestern und Brüder, betet auch für uns.
1. Brief des Paulus an die Thessalonicher 5, 14-25
Es geht also um den kritischen Umgang mit Prophezeiungen. Dazu weitere Warnungen und Weisungen für Christenmenschen jener Zeit, die wirklich glaubten, das Ende der Zeiten sei nah [12]. Vielleicht waren sie gerade deshalb auch anfällig für Verführungen durch falsche Propheten. Aber: Wenn hier aufgerufen wird zur Prüfung – dann muss sie eine Grundlage haben, dann braucht es eine Referenz. Vielleicht sogar eine Musterlösung. Paulus mag auf die Kraft seiner Unterweisung vertraut haben, seine Lehrautorität in den Gemeinden. Vielleicht mag der schriftkundige ehemalige Sadduzäer auch den Propheten Micha im Kopf gehabt haben:
„Gott hat dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Adonaj von dir fordert: nichts andres als Recht tun und Güte lieben und besonnen mitgehen mit deinem Gott.“
Micha 6, 8 (in gerechter Sprache)
Was gut ist – an sich also vergleichsweise einfach. Mit klarer Ansage. Wenn Gott nur immer so eindeutig spräche – oder klar verstanden würde (zumal von angeblichen Christdemokraten). Natürlich könnte Paulus Jesus selbst sogar zeitlich noch näher gelegen haben. Den immerhin zitiert (historisch vielleicht noch später) ein Evangelist so:
Ihr Heuchler! Das Aussehen der Erde und des Himmels könnt ihr prüfen; warum aber könnt ihr diese Zeit nicht prüfen? Warum aber urteilt ihr nicht auch von euch aus darüber, was recht ist?
Evangelium nach Lukas 12, 56-57
„Von euch aus“ - Mag man hier Ansätze eines selbstständigen, kritischen Denkens erkennen? Ein eigener Sinn für Gerechtigkeit, Wahrheit? – Es war noch nicht die Zeit der Aufklärung. Und doch – biblische Ansätze mag es gegeben haben, ein Gefühl für universale Gerechtigkeit, die sogar als Maßstab an Gott selbst angelegt werden kann? Manche wollen solche Ansätze in biblischen Geschichten erkennen und mit der Aufklärung im Sinne von Immanuel Kant in Beziehung setzen [3]. Wer hat eigentlich wahrgenommen, dass 2024 auch das Kant-Jahr war (im Gedenken an dessen 300. Geburtstag)?
„Von euch aus“ – Von uns aus. Selber denken. Selber prüfen. Wie also sollen wir über diese, unsere Zeit urteilen? Während ich dies schreibe, erreicht mich der Hinweis auf einen älteren IKvu-Neujahrsgruß, schon von 2017 [4]. War das damals prophetisch im Sinne eines „Hellsehens“? Oder sind es einfach immer noch die gleichen Probleme, Krisenlagen? Ungelöst, sogar verschärft, nun mit noch weniger Hoffnung auf Auswege? Schon seit 2015 verfasse ich auch Editorials für eine heimatkundliche Jahresschrift [7]. Noch immer versuche ich dabei, so etwas wie ein inklusives Heimatbild zu zeichnen, Hoffnung zu säen in schwierigen, unübersichtlichen Zeiten. Mit der Zeit klingen die neueren Texte im Vergleich zu den vorhergehenden immer ähnlicher. Aber war es jemals anders seit...? Ich weiß es kaum mehr. Vielleicht bis zum 10. September 2001.
Aber vielleicht ist das doch ein Hinweis: Es ist nicht so, dass wir mit völlig Neuem konfrontiert sind. Jedenfalls nichts, mit dem viele andere Menschen nicht schon umgehen mussten und länger umgehen müssen. Wir mögen uns vormachen, dass Klimawandel gerade nicht „das“ politisch wichtigste Thema sei. Bleibt es aber und ist bittere Realität [10] – nicht zuletzt für Klimaflüchtlinge und Menschen die schon jetzt von brutalen Verteilungskämpfen betroffen sind. Was sich – allen inhumanen Zwangsarbeits-, Abschiebe- und Abschottungsfantasien zum trotz – eben nicht weg-regeln, fernhalten und wegschaffen lässt. Und wie lange liegen ökonomisch gerechtere Zeiten zurück? Gab es das jemals? National mag es schon egalitärer zugegangen sein – doch immer auf Kosten anderer, die wir lange nicht sehen wollten. Und vor allem: die uns nicht sehen konnten.
Und dann mag man schimpfen über „die da oben“, die uns Leute nicht abholen und nicht dahin mitnehmen, wo wir glauben hin zu wollen [1]. An mit demokratischen Grundrechten ausgestatteten Bürger:innen sind aber andere Ansprüche zu stellen, als an paternalistisch regierte Untertanen vormoderner Zeiten. Die mögen sich mitunter auch verlassen gefühlt haben und ließen ihren Zorn an (vermeintlich) unfähigen Herrschern aus [11]. Mit Blick auf bevorstehende Wahlen kann man durchaus behaupten, dass die aktuelle Spitzenpolitiker:innen-Auswahl erbärmlich und weithin unerwünscht sei. Allein – wer „die da oben“ für alles und jedes in Anspruch nehmen will, sie abgleicht mit vormodernen oder gar faschistoiden, immer auch verklärten (überwiegend männlichen) Führerfiguren – hat womöglich nichts Besseres verdient.
Nun will ich aber nicht ganz in die neoliberale Falle tappen und alles individualisieren. Der Staat sind eben auch wir, die Wirtschaft sind immer auch wir. Es ist eben auch unsere Aufgabe, Regeln und Systeme gerechter, besser zu machen. Schwer genug, aber doch besser machbar als in totalitären Herrschaftsordnungen. Wir brauchen nicht auf vermeintliche Eliten warten, die eine Prüfung des Jetzt nicht hinbekommen (oder wenigstens nicht dementsprechend handeln). Und wir müssen auch nicht in Resignation verfallen. Ja, an Verfalls-Erzählungen mangelt es gegenwärtig nicht. Nicht an prophetischen Schriften, die sich scheinbar selbst erfüllen [8]. Und es fehlt nicht an fatalistischen Feststellungen, dass ohnehin alles unhaltbar sei, wir uns im Übergang in eine neue, weniger demokratische, wesentlich ungerechtere und ökologisch fragile Zeit befinden [2]. Gerade mit dem Wissen, was werden kann – muss es aber nicht zwangsläufig auch genau so kommen. Ebenso gibt es nicht völlig unrealistische Denk-Angebote [6].
Warum aber könnt ihr diese Zeit nicht prüfen? Warum aber urteilt ihr nicht auch von euch aus darüber, was recht ist? – Löscht die Geistkraft nicht aus, verachtet Prophezeiungen nicht, doch prüft alles und behaltet das Gute.
Das Gute behalten – das ist im Moment wohl angemessener als blinder, oberflächlicher Optimismus. Es bedeutet nicht, uns gegenüber Aufklärung und Zeitansagen, überhaupt Mitmenschen zu verschließen. Denn wer das Gute, Gerechte im Blick behält, kann auch die eigene Urteilskraft behalten und falschen Propheten widerstehen. Und dabei vielleicht auch aus fernen und alten Quellen Hoffnung schöpfen. Und dann aus dem, was angeblich ist, etwas Besseres machen. In Kirche(n) und Gesellschaft.
„Optimismus ist eine Verkennung der Tatsachen; Hoffnung zielt darauf, Tatsachen zu ändern“ [9]
In diesem Sinne wünschen wir ihnen und euch einen hoffnungsvollen, frohen und stärkenden Verlauf des Jahres 2025!
Ihr/Euer
Sebastian Dittrich
Quellen
[1] Adam, Karl 2024. „Ich fühle mich nicht abgeholt...“ – imgegenlicht.wordpress.com/2024/09/19/ich-fuhle-mich-nicht-abgeholt/ - letzter Zugriff: 17.01.2025
[2] Blühdorn, Ingolfur. 2024. Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp: 384 S.
[3] Boehm, Omri. 2023. Radikaler Universalismus: jenseits von Identität. Ullstein: 175 S.
[4] Dittrich, Sebastian. 2017. Neujahrsgruß 2017 der Initiative Kirche von unten – ikvu.de/kontexte/texte-personen/neujahrsgruss2017 – letzter Zugriff: 17.01.2025
[5] Heim, Manfred (Hg.) 2001. Theologen, Ketzer, Heilige. Kleines Personenlexikon zur Kirchengeschichte. C.H. Beck: 432 S.
[6] Herrmann, Ulrike. 2024. Das Ende des Kapitalismus: Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden . Verlag Kiepenheuer & Witsch: 350 S.
[7] www.museum-badmuender.de/der-soeltjer.html – letzter Zugriff: 17.01.2025
[8] Martin, Hans-Peter. 2018. Game over. Wohlstand für alle, Demokratie für niemand, Nationalismus für alle. Und dann? Penguin: 382 S.
[9] Neiman, Susan. 2017. Widerstand der Vernunft: Ein Manifest in postfaktischen Zeiten. ecowin: 80 S.
[10] Reimer, Nick & Staud, Toralf. 2021. Deutschland 2050. Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird. bpb: 376 S.
[11] Sonnabend, Holger. 2021. Tiberius. Kaiser ohne Volk. WBG: 271 S.
[12] Winkelmann, Friedhelm. 1996.