IKvu-Geschichte

„Kehrt um. Entrüstet euch!“

Die IKvu in der Friedensbewegung

von Tom Schmidt, 2000

„Ein lebendiger Glaube setzt das Engagement für die geschichtliche Befreiung der Un­terdrückten voraus.“ So steht es am Beginn des Buches „Jesus Christus, der Befreier“ von Leonardo Boff. Eine Kirche, die sich – mit dem Rücken zu den Ausgegrenzten unse­rer Gesellschaft – vor allem mit sich selbst beschäftigt, verrät den, auf den sie sich beruft: Jesus Christus. Das war eine Grundüberzeugung derjenigen, die sich nach dem enttäuschenden Programm des Freiburger Katholikentages 1978, der einem kritischen Glaubens- und Gesellschaftsverständnis keinerlei Platz einräumte, aufmachten, um für den Berliner Katholikentag 1980 ein eigenes, unzensiertes Programm auf die Beine zu stellen.


Orientiert an der inhaltlichen Offenheit des Marktes der Möglichkeiten auf evangelischen Kirchentagen und begünstigt durch den publizistischen Wirbel der „Küng-Affäre“ (im Dezember 1979 hatte der Vatikan dem katholischen Theologie-Professor Hans Küng als Reaktion auf dessen kritische Interpretation der „Unfehlbarkeit“ des Papstes die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen) gelang es in Berlin, Parteilichkeit im Kampf um die Befreiung aus internationalen, innergesellschaftlichen und innerkirchlichen Unterdrückungsmechanismen zum Ausdruck zu bringen.


Es war kein Zufall, dass dabei von Anfang an das Engagement für Frieden und Abrüstung eine wesentliche Rolle spielte, das in der „Berliner Erklärung katholi­scher Christen gegen die Atomrüstung“ seinen ersten prononcierten Ausdruck fand.


Von Anfang an versuchte die IKvu, die nachdrückliche Forderung nach binnenkirchlichen Reformen mit der konkreten Einmischung in die aktuelle politische Debatte zu verknüp­fen. Inspiriert durch die Theologie der Befreiung vertrat sie die These, dass es eine unpo­litische Kirche nicht gibt, dass sie vielmehr ihren politischen Standpunkt in der Gesell­schaft ganz bewußt einnehmen und sich von da aus engagieren muss.

 

Strömungen der Friedensbewegung

Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre war die ge­sellschaftliche Diskussion in Deutschland geprägt von der sogenannten Nachrüstungsdebatte (die NATO hatte im Dezember 1979 im sog. „Doppelbeschluß“ entschieden, ab 1983 neue atomare Mittelstreckenwaffen in Westeuropa zu stationieren, wenn die UdSSR bis dahin nicht eigene Raketen dieses Typs in Osteuropa abgebaut haben würde). Mit dieser neu­en Runde des Rüstungswettlaufs im Kalten Krieg zwi­schen Ost und West war unversehens die gesamte Le­gitimation insbesondere der Atomrüstung auf den Prüf­stand geraten. In wachsenden Teilen der Bevölkerung setzte sich mit der Nachrüstungsdebatte die Erkenntnis durch, dass es bei einer atomaren Auseinanderset­zung nur Verlierer und keinen Gewinner gehen würde und dass das, was man eigentlich verteidigen wollte, mit einem atomaren Krieg nur zerstört werden konnte.


Die breite gesellschaftliche Debatte wäre undenkbar ge­wesen ohne das Entstehen der Neuen Sozialen Bewegungen, die sich in diesen Jahren etablierten. Ausge­hend von der in den 70er Jahren dominierenden ökologischen Bewegung, die mit ihren Fragen nach den Grenzen des Wachstums und dem Erhalt der Lebensgrundlagen auf dem blauen Planeten die etablierte Parteienlandschaft verunsicherte, schob sich zu Beginn der 80er Jahre die Friedensbewegung immer mehr in den Vordergrund. Die IKvu fühlte sich von Anfang an als Bestandteil dieser Bewegung und hatte in ihren wichtigsten Gremien, insbesondere dem Koordinierungsausschuss, maßgeblichen Einfluss.


Die Gremien der Friedensbewegung wurden im We­sentlichen von vier unterschiedlichen Strömungen ge­prägt, deren Zusammenarbeit immer wieder von hefti­gen grundsätzlichen Auseinandersetzungen geprägt war:


• Da gab es zum einen die DKP-kontrollierten Grup­pen, die sich die verschiedensten Tarnmäntelchen umgehängt hatten, um so Einfluß ausüben zu können. Sie waren gut organisiert, verfügten über eine Menge professionelles Personal und das meiste Geld. Durch ihre völlige Abhängigkeit von der DKP und damit von der SED waren sie allerdings dazu verpflichtet, ihre Abrüstungsforderungen einseitig auf den Westen zu beziehen und die Politik von SED und KPdSU vorbehaltlos zu unterstützen. Dadurch war ihre Glaubwürdigkeit gleich Null, in der öffentlichen Debatte standen sie stets im Hintergrund.


• Daneben gab es die Vorfeldorganisationen der SPD, die insbesondere mit dem wachsenden Zulauf zur Bewegung versuchte, diese für sich zu vereinnahmen und gleichzeitig für ihre innerparteiliche Diskussion zu instrumentalisieren.


• Darüber hinaus gab es den Zusammenschluss unabhängiger Friedensgruppen, de­ren Spektrum bis ins autonome Lager hineinreichte, die gleichzeitig aber für das wach­sende bürgerliche Potential eine Provokation darstellten.


• In diesem Umfeld kam den christlichen Gruppen eine entscheidende Funktion zu. Sie verfügten – ohne direktes parteipolitisches Interesse – über die größte Glaubwür­digkeit und hatten Ausstrahlungskraft bis weit ins bürgerliche Lager. Dies hatte sei­nen Grund in der Grundsätzlichkeit der friedenspolitischen Diskussion in den Kir­chen, die sich ja nicht einfach an politischen Opportunitätsprinzipien orientieren konn­te, sondern ethische Grundsatzfragen zu klären hatte.

 

„ Gerechter Krieg “ ?

Zwar erfolgte die Diskussion in der evangelischen Kirche – insbesondere auf den Kirchentagen – in wesentlich breiterer Form als bei den KatholikInnen. Aber auch hier (und das war zu Beginn der 80er Jahre vor allem ein Verdienst der IKvu) mussten sich Moraltheologen und Bischofskonferenz mit dem Thema auseinandersetzen.


Besondere Brisanz gewan­nen die Überlegungen in der katholischen Kirche, weil durch die traditionel­le Diskussion über die Kri­terien für einen „Gerech­ten Krieg“ nicht zuletzt die Päpste Pius XII. und Paul VI. Vorgaben ge­macht hatten, denen man sich in der konkreten poli­tischen Diskussion nicht so ohne weiteres entziehen konnte. (Bereits im 13. Jahrhundert hatte Thomas von Aquin ethische Kriterien dafür formuliert, unter welchen Umständen ein Krieg möglicherweise gerechtfertigt sein könne („Gerechter Krieg“). Zu diesen Kriterien gehörten u.a. die „Verhält­nismäßigkeit der Mittel“ und die Schonung der Zivilbevölkerung.)


Im Kern ging es um die Frage, ob im Falle eines Verteidigungskrieges der Einsatz atomarer Waffen erlaubt sein könne oder nicht. Glasklar ergab sich, dass sich im In­ferno eines atomaren Krieges die notwendige Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilisten (oder „Kombattanten“ und „Nichtkombattanten“) nicht mehr halten ließ und – da die Anwendung von Atomwaffen eine unkontrollierbare Eskalation der Kriegsfolgen befürchten ließ – deren Anwendung als „sittlich verwerflich“ einzustu­fen war.


Die Folgerung, die „führende Moraltheologen" daraus zogen, war allerdings ebenso gewunden wie bizarr: Anstatt aus der Verwerflichkeit der Anwendung von Atomwaf­fen zu folgern, dass damit auch die gezielte Vorbereitung auf eine atomare Auseinan­dersetzung zu verurteilen sei, stellte man die Frage, ob nicht die Abschreckungspolitik, die ja nicht den Krieg, sondern die Verhinderung des Krieges zum Ziel habe, eben wegen dieser Zielsetzung doch noch zu rechtfertigen sei.


Die zugespitzte Frage, ob es moralisch dann richtig sein könne, mit etwas zu drohen, dessen Durchführung unter keinen Umständen erlaubt sei, mochte man dann aber doch nicht mit einem klaren Ja beantworten.


Statt dessen räumte man der Politik noch eine letzte Galgenfrist ein, sich aus diesem Dilemma zu verabschieden, und vermied es so erneut, sich als katholische Kirche der gesellschaftlich aktuellen Verantwortung zu stellen.

 

Demonstrationen gegen die Nachrüstung

Die Initiative Kirche von unten bezog dagegen deutlich Position und formulierte: „Wir halten diesen Rüstungswahnsinn für eine Sünde gegen Gott und für ein Verbrechen an den Menschen. Deswegen ist es unsere Verpflichtung, uns vom Götzen Rüstung zu befreien. Wir sehen in der Verweigerung aller Kriegsdienste hier und heute eine notwendige Haltung von Christen, um eindeutige Zeichen zur Umkehr zu setzen und konsequente Abrüstungsschritte einzuleiten. “


Zehntausende folgten 1982 dem Aufruf der IKvu zur Friedensdemonstration auf dem Düsseldorfer Katholikentag in die Rheinauen unter dem Motto „Kehrt um – Entrüstet Euch!“. Im folgenden Jahr erlebte die Bundesre­publik die größte Friedensdemonstration ihrer Geschichte. Zu den Organisationen, die dazu aufgerufen hatten, gehörte auch die IKvu. Die damalige Hauptstadt Bonn war völlig von Friedensbewegten eingenommen. Es herrschte eine euphorische Stim­mung bei den Engagierten, die SPD stellte sich mit Willy Brandt an der Spitze gegen den Nachrüstungsbeschluss, den doch der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt eingefädelt hatte. Es herrschte eine nie dagewesene Politisierung der Bevölkerung: Kaum ein Platz in der Republik, an dem nicht über Sinn und Unsinn des atoma­ren Wettrüstens diskutiert wurde. Selbst in der CDU machten sich die ersten Nachrüstungsgegner bemerkbar. Und beim Evangelischen Kirchentag in Hanno­ver besorgten sich Zehntausende die berühmt gewordenen lila Halstücher mit der Aufschrift „Umkehr zum Leben – Die Zeit ist da für ein Nein ohne je­des Ja zu Massenver­nichtungswaffen“.


Doch die neue CDU/FDP-Bundesregierung reagierte kalt, arrogant und politisch instinktsicher. Nach der

Devise „Die demonstrieren – wir regieren!“ beschloss sie die Nachrüstung ohne Wenn und Aber. Mit dem gewünschten Erfolg: Viele der erstmals politisch aktiv Gewordenen begaben sich wieder auf die Bänke der Zuschauerdemokratie. Resignation machte sich breit: „Die machen ja ohnehin, was sie wollen ...“ – „Wir können ja doch nichts bewirken.“ Welch verpasste Chance!

 

Vom Protest zum Widerstand

Die IKvu formulierte dagegen: „Immer mehr Christen begreifen die gegenwärtige Situation als Widerstandssituation, in der sie auch Formen des zivilen Ungehorsams und gewaltfreien Widerstands praktizieren.“ Und dieser Widerstand wurde organi­siert: Zunächst mit der Beteiligung an den Blockaden des Pershing II-Stützpunktes in Mutlangen; später initiierte die IKvu die ersten Blockadeaktionen am Cruise-Missiles-Standort Hasselbach im Hunsrück. Für viele begann damit eine neue Dimension des Protestes. Waren die großen Demonstratio­nen noch von der Mehrheit in der Bevölke­rung akzeptiert, soweit sie ohne gewaltsame Zusammenstöße verliefen, gab es um die Blockadeaktionen heftige Diskussionen. Von den Akteuren wurden sie oft minutiös vor­bereitet, weil es gerade den christlichen Gruppen wichtig war, sie als gewaltfreie Ak­tionen zu organisieren.


Die Staatsgewalt versuchte, die Aktionen zu­rückzudrängen und die Aktiven einzu­schüchtern, indem sie sie mit Gerichtsver­fahren überzog und mit Geld- bzw. Haftstra­fen bedrohte. Dies war nur möglich dadurch, dass die Staatsanwaltschaften eine perfide Rechtslage konstruierten, wonach sie den BlockadeteilnehmerInnen „versuchte Nöti­gung“ vorwarfen. Die Gerichte gingen die­sen Weg zunächst mit und verurteilten Tau­sende „unbescholtene Bürger“ mit empfind­lichen Geldstrafen, die zum Teil sogar im Ge­fängnis abgesessen wurden. Denjenigen, die sich häufiger an den Aktionen beteiligten, wurde ein „Vorbestraft“ in ihr polizeiliches Führungszeugnis eingetragen. Die Gerichts­akten der BlockiererInnen erhielten den Auf­kleber „politisch“, obwohl es hochoffiziell natürlich keine politischen Prozesse in der Bundesrepublik gab. (Jahre später hob das Bundesverfassungsgericht die Urteile auf, tausende Prozesse wurden neu aufge­rollt und endeten alle mit Freisprüchen.)

 

„Solidarität wird von uns verlangt, ja sogar potent eingeklagt von Kirche und Staat. Und doch ist ein junger Mensch, der auf der Straße vor dem Mutlanger Waffenarsenal sitzt, mit diesem Staat und dieser Kirche solidarischer als die, die ihn nach Recht und Gesetz wegen einer Regelverletzung wegtragen. Ich weiß, was ich damit sage, denn ich weiß, daß ich damit den Konflikt anspreche, der uns bis zum Zerreißen belasten kann: Den Konflikt zwischen Legalität und Legitimität. Denn die Solidarverpflichtung reicht tiefer als das geschriebene Gesetz. Jesus war das Beispiel. Er hat die Gesetze geachtet. Er hat sie in der Bergpredigt rigoros zu Ende gedacht. Aber er hat sie souverän übertreten, wenn ihm der Mensch wichtiger war als das Gesetz. Und er ist deshalb, nach Recht und Gesetz, als Verbrecher zwischen Verbrechern hingerichtet worden.“


Heinrich Albertz in der „Nacht der Solidarität“ des Katholikentags von unten 1984 in München

 

Der Konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung


Die christlich motivierten Gruppen und mit ihnen viele IKvu-Gruppen bildeten ei­nen wesentlichen Bestandteil dieses entschlossenen Teils der Friedensbewegung, der sich mit den herrschenden Verhältnissen nicht abfinden wollte. Ihre Aktionen waren auch ein Zeichen dafür, die eigenen Glaubensüberzeugungen, die Kirche von unten ernst zu nehmen, d. h. in eine neue Praxis umzusetzen.


Gleichzeitig bedeutete diese Radikalisierung aber auch einen Schritt weg von der Friedensbewegung als Massenbewegung. Zwar wurde 1986 noch einmal eine große Friedensdemonstration im Hunsrück organisiert; zwar gab es noch einmal massen­haften Protest gegen den Golfkrieg 1991; und immer wieder Erklärungen und Resolutionen wie etwa 1989 zum 60. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges. Aber die Hochzeit der Friedensbewegung war vorbei, und sie begann in wenigen kleinen Zirkeln zu überwintern. Die Organisationen der verschiedenen Neuen Sozia­len Bewegungen versuchten, ihrer zunehmenden personellen Schwächung mit einer übergreifenden Vernetzung zu begegnen.


Auch in den Kirchen begann man, nachdem man sich zu lange ausschließlich auf die Raketenfrage konzentriert hatte, die wichtigsten Problemstellungen zusammen­zudenken. Das fand seinen deutlichsten Niederschlag im Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. (1983 hatte der Weltrat der Kirchen in Vancouver zu einem solchen Prozeß – ursprünglich "Friedenskonzil“ genannt – eingeladen, bei dem sich die Kirchen gegenseitig verpflichten sollten, für die drei Ziele Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung einzutreten. Mitte der 80er Jahre kam dieser Prozeß in beiden deutschen Staaten ins Rollen und hatte in der DDR vermutlich nicht geringen Anteil am späteren Sturz des SED-Regimes.) Dieser Prozess traf aber in Deutschland weitgehend nur in der Evangelischen Kirche auf Resonanz. Die katho­lische Amtskirche hielt sich nicht nur zurück, sie nutzte ihren Einfluss, um zu brem­sen und den gemeinsamen Nenner möglichst klein zu halten. Die IKvu mühte sich zwar wenigstens um Beteiligung, konnte aber keine eigene Kraft entfalten.


Insgesamt gelang es trotz zahllosen Veranstaltungen, ausgefeilten Argumentationen und bundesweiten Netzen nicht, das Anliegen des Konziliaren Prozesses in die Ge­sellschaft hineinzutragen.

 

Schwächung durch die deutsche Vereinigung

Auch gemeinsam schöpften die Neuen Sozialen Be­wegungen keine neue Kraft. Mit dem Zusammenbruch der militärischen Supermacht Sowjetunion, mit dem faktischen Ende des klassischen Ost-West-Konfliktes und der Etablierung des Weltpolizisten USA war ihr Beitrag erst einmal nicht mehr gefragt. Mit der Auflösung des Ostblocks verband die konservative Politik geschickt die These, dass Abschreckungspolitik und Rüstungswettlauf letztlich doch erfolgreich gewesen seien. Angesichts der sich nun offenbarenden deso­laten ökonomischen Lage der osteuropäischen Län­der sowie der DDR begann man sich als historischer Sieger zu fühlen, wischte die eigenen Probleme, die Öko- und Friedensbewegung thematisiert hatten, als Peanuts vom Tisch.


Auch die globalen Fragestellungen der Einen Welt gerieten angesichts der Konzentration auf Innen- und Europapolitik fast völlig aus dem Blickfeld. Die IKvu versuchte nach Kräften dagegen zu halten. „Frieden braucht Gerechtigkeit“ postulierte sie und verwies auf einen umfassenden Friedensbegriff, der sich nicht nur auf einzelne Waffensysteme beziehen dürfe, sondern eine gerechtere Verteilung der materiellen Güter zur Vorausset­zung habe. Und sie listete die Zwischenbilanz auf: 5% der Weltbevölkerung verschlingen 75% der zur Verfügung stehenden Güter; ein Nordamerikaner konsumiert das 45fache einer Indonesierin oder Afrikanerin! Zwei Drittel der Weltbevölkerung fristen ihr Leben im Elend. Eine Milliarde Menschen kann beim Eintritt ins 21. Jahrhundert weder lesen noch schreiben. Zwei Millionen Kinder sterben in jedem Jahr aufgrund ihres zu niedri­gen Geburtsgewichts. Fünf Millionen sterben an Masern, Tetanus und anderen Krank­heiten, gegen die es wirksame Impfstoffe gibt.


Diese Ungerechtigkeiten machen die Welt zusammen mit der zunehmenden Militarisie­rung und dem Rüstungsexport – an dem sich die Bundesrepublik Ende der 80er Jahre als viertgrößter Waffenhändler weltweit beteiligte – zu einem Pulverfass. Aber viele wollten das nicht mehr hören, die Deutsche Einheit schlug alles in ihren Bann. Helmut Kohl, lan­ge verlacht und nicht ernst genommen, nahm als Kanzler der Einheit seinen Platz in den Geschichtsbüchern ein und – nicht recht be­merkt – vollzog sich in der Gesellschaft nun ein ganzes Stück der von Kohl bei seinem Regierungsantritt 1982 angekündigten „gei­stig-moralischen Wende“: Die Gesellschaft rückte nach rechts, die Notwendigkeiten der Globalisierung und der Gesetze des Marktes wurden auch für viele bis dato kritische Zeitgenossen zum nicht mehr zu hinterfragenden Evangelium.


Sicher war der Rausschmiss der GRÜNEN aus dem Bundestag bei den Wahlen 1990, die doch aus den Bewegungen der 70er / 80er Jahre entstanden und deren Sprachrohr im Parlament gewesen waren, ein Symbol, das die neue, größer gewordene Bundes­republik kennzeichnete. Für die Friedensbewegung ebenso wie für die IKvu bedeute­te der Vereinigungsprozess eine weitere Schwächung. Auf der einen Seite wurden die Bürgerbewegten, die doch die friedliche Revolution in der DDR maßgeblich angesto­ßen hatten, schnell entmachtet, die DDR politisch unter die etablierten westlichen Parteien weitgehend aufgeteilt. Lediglich der PDS gelang es, sich als Sprachrohr derer, die sich als Opfer der Wende verstanden, im Osten dauerhaft zu etablieren. Auf der anderen Seite hatten die Reste der Neuen Sozialen Bewegungen aus dem Westen und die Bürgerbewegten aus dem Osten nicht viel gemein, kamen aus völlig unter­schiedlichen Milieus, verstanden sich nicht. Für die IKvu, im katholischen Milieu gewachsen und nach wie vor beheimatet, waren die neuen Bundesländer Diaspora. Der intensive binnenkirchliche Konflikt, aus dem sie entstanden war und der sie nach wie vor prägte, war im Osten nicht vermittelbar.

 

Der Weg ist das Ziel

Wie in der Gesellschaft insgesamt geriet in den 90er Jahren das friedenspolitische Engagement im engeren Sinne auch innerhalb der IKvu in den Hintergrund. Auch auf ihren Katholikentagen von unten wurde die Friedens- und Rüstungsfrage und die gesellschaftskritischen Themen insgesamt immer weniger nachgefragt (auch weil sich der Katholikentag von oben diesen Fragen immer mehr geöffnet hatte – zweifelsohne zu großen Teilen ein Verdienst der IKvu!). Da gleichzeitig die binnenkirchlichen Themen seit 1995 in wachsendem Maße von der KirchenVolksBewegung „Wir sind Kir­che“ aufgegriffen und thematisiert werden, stellt sich immer schärfer die Frage nach dem weiteren Weg der IKvu.


Realistischerweise muss sie konstatieren, dass ein Wiedererstarken der Bewegungen nicht absehbar ist. Das liegt nicht etwa daran, dass die Problemstellungen, die sie benannt haben, gelöst oder Lösungen auch nur angegangen wären:


• Nach wie vor wird die Schere zwischen Arm und Reich in der Einen Welt täglich größer.

• Nach dem jüngsten Bericht der UN-Umweltbehörde sind selbst bei dem dringend geforderten grundsätzlichen Umsteuern in der globalen und nationalen Umweltpolitik wichtige Teile von Flora und Fauna unrettbar verloren. Deshalb werden wir die Welt, die wir doch – gemäß einem geflügelten Slogan der Bewe­gungen – „von unseren Kinder nur geborgt“ haben, in einem elenden Zustand an sie weiter geben.

• Der Krieg ist, nachdem die Supermacht Sowjetunion zerbrochen und damit zumindest die bewusste Herbei­führung einer atomaren Auseinandersetzung gebannt scheint, nach Europa zurückgekehrt; 1999 sogar erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder unter aktiver deut­scher Beteiligung.


Aber Tatsache ist, dass gerade jüngere Leute für die tra­ditionellen Aktionsformen der Bewegungen nicht zu begeistern sind, neue Handlungsmuster gefragt sind. Was ist zu tun, wenn wir uns mit den Umständen nicht einfach abfinden wollen?

Sicher gibt es keinen Königsweg, aber vielleicht können wir aus den letzten 20 Jah­ren auch lernen, dass sich die Initiative Kirche von unten nicht mehr mit einem Übermaß an Improvisation und Unprofessionalität zufrieden geben darf. Einen ernsthaf­ten und gefragten Beitrag für diese Gesellschaft werden wir nur leisten können, wenn wir unsere Strukturen ernst nehmen und sie professionalisieren. Das bedeutet nicht einfach, die Verantwortung auf einige wenige abzuschieben. Im Gegenteil: Das be­deutet, dass wir die Arbeit an einer Kirche von unten genauso ernst nehmen wie das Bauen unseres Eigenheimes, die Sicherung unserer Mobilität oder die qualitätvolle Gestaltung unserer Freizeit. Wir müssen bereit sein, Zeit und Geld zu investieren, um die Arbeit eines professionellen Netzwerkes Initiative Kirche von unten zu er­möglichen.

Ob sich das lohnt, hängt von den Erfolgskriterien ab: Wer die Frage nach dem Erfolg des Friedensengagements der IKvu in den letzten 20 Jahren stellt, könnte konstatie­ren, dass es gescheitert ist. Wer bei den Aktionen dabei war, weiß, dass das nicht gilt für die Menschen, die mit großer Ernsthaftigkeit versucht haben, ihre Überzeugun­gen glaubwürdig in die Praxis umzusetzen.

Wir, die wir uns in der Nachfolge Jesu versuchen, der in der Welt gescheitert ist, wissen, dass der Weg – unser Lebensweg – das Ziel ist. Die Frage, ob die Kirche von unten eine Zukunft hat, wird von uns entschieden.

 

 

aus: Kirche lebt von unten. Erfahrungen aus 20 Jahren, hrsg. von Martin Seidler und Michael Steiner, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2000.