Einleitende worte von Andreas Seiverth

Einleitung zur Verleihung des Dorothee-Sölle-Preises auf dem 35. Deutschen Evangelischen Kirchentag  

am 4. Juni 2015 in der Friedenskirche in Stuttgart 

 

Sehr verehrte Anwesende, liebe Schwestern und Brüder,

ich begrüße Sie und heiße Sie – und insbesondere Herrn Fulbert Steffensky und Frau Jutta Lehnert, die vorangegangene Preisträgerin – herzlich willkommen zur Verleihung des Dorothee-Sölle-Preis für aufrechten Gang. Mein Name ist AS und ich darf heute als Sprecher des Ökumenischen Netzwerks Initiative Kirche von unten den Dorothee-Sölle-Preis an Herrn Dr. Boniface Mabanza Bambu übergeben. Dieser Preis wurde bisher im Rahmen des offiziellen Programms des Deutschen Evangelischen Kirchentags verliehen; leider hat es der Kirchentag abgelehnt, diese Tradition hier in Stuttgart fortzusetzen. Umso mehr freuen wir uns und danken der Gemeinde der Friedenskirche, dass wir den Preis heute hier im Zentrum Frieden verleihen können. Dies ist der richtige und passende Ort für den Dorothee-Sölle-Preis für aufrechten Gang.

Wir gedenken in diesem Jahr der Ermordung Dietrich Bonhoeffers, der vor 70 Jahren als Widerstandskämpfer gegen die Diktatur des Nationalsozialismus hingerichtet worden ist. Von seiner Begegnung mit den Spirituals der schwarzen Kirchen in den dreißiger Jahren in New York sagt er, dass er erst durch sie vom Theologen zum Christen geworden sei. Diese Begegnung hat für ihn einen Perspektivenwechsel und eine neue praktische und theoretische Einstellung gegenüber der eigenen persönlichen Situation und gegenüber den politischen Machtkonstellationen seiner Zeit bewirkt. Im Gefängnis in Tegel beschreibt er am Ende des Jahres 1943 diese Erfahrung mit den Worten: „Es bleibt ein Erlebnis von unvergleichlichem Wert, dass wir die großen Ereignisse der Weltgeschichte einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden sehen gelernt haben.“ Dieser Perspektivwechsel, so fährt Bonhoeffer fort, könne uns dazu verhelfen, „dass unser Blick für Größe, Menschlichkeit, Recht und Barmherzigkeit klarer, freier, unbestechlicher“ wird [Dietrich Bonhoeffer: Nach zehn Jahren In: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hrsg. von Christian Gremmels u. a. D. B. Werke Bd. 8,  München 1998, S. 19 -39, S. 38f].

Mit dieser Haltung und Einsicht ist Dietrich Bonhoeffer zu einem der wichtigsten theologischen Lehrer für Dorothee Sölle geworden. Mit ihm führt sie „einen lebenslangen theologischen Dialog“ (Renate Wind: Dorothee Sölle. Rebellin und Mystikerin“ S. 57). Wie für jeden und jede von uns war es auch für Dorothee Sölle eine Lebensaufgabe, in der Auseinandersetzung mit den familiären und sozialen Prägungen und mit den Erfahrungen der individuellen Herkunft zu einer eigenen Identität zu gelangen. In der Einleitung zu ihrem Buch, das sie berühmt und umstritten gemacht hat: „Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem ‚Tode Gottes‘“, fragt sie: „Wer bin ich? Wie komme ich zu mir selber? Wie lebe ich so, dass ich es bin, der dieses Leben lebt? So fragt nicht nur die um sich selbst bekümmerte Subjektivität, sondern der Mensch in der Gesellschaft, die ihn bindet und formt, beschädigt und entstellt“ (zit. nach Renate Wind, S. 54). Ihre existenzielle Ausgangsfrage, die sie, geboren am 30. September 1929, als „Tochter aus gutem Hause“ einer großbürgerlichen Familie, die sich im dritten Reich zwischen Anpassung und Verachtung gegenüber der nationalsozialistischen Herrschaft bewegt hatte, - ihre existenzielle Ausgangsfrage, die sie sich im Jahr 1967 stellt, ist ihre Frage „nach einer Welt, in der es vielleicht einfacher sein möchte, mit sich identisch zu werden.“ (Wind S. 55).

Wenn wir die Frage nach unserer persönlichen Identität als heutige Zeitgenossen auf uns beziehen und ins Praktische wenden, wird sie für uns zur Frage danach, wie wir in einer Welt leben wollen, die von der Macht oligarchischer Konzerne und Banken bestimmt wird, und zwar nicht nur in Russland und in der Ukraine, sondern auch in Westeuropa, bei uns. Wir sind der Herrschaft und der politischen Macht einer ‚Vermögensverteidigungsindustrie‘ ausgesetzt, in einer Demokratie, in der Oligarchien nicht als ‚Funktionseliten‘, sondern wie Jeffrey Winters, Wolfgang Streeck, Sighard Neckel und andere Soziologen sagen, „sich als ökonomisch mächtige Beutegemeinschaften … im gemeinsamen Imperativ der Vermögensverteidigung miteinander verbinden“ (S. Neckel: Oligarchische Ungleichheit. In: WestEnd 2/2014. S. 60).

Dass aus dieser existenziellen Frage für Dorothee Sölle eine politische und damit eine Frage ihrer praktischen Haltung oder anders gesagt: eine Frage des „aufrechten Gangs“ wurde, ist für sie seit den 60iger und 70iger Jahren mit der Erfahrung der  „Compassio“, des Mit-leidens verbunden. Das Erlernen des „aufrechten Gangs“ – und für diesen Gedanken bin ich Lutz van Dijk, der seit fünfzehn Jahren in Südafrika sich als Pädagoge engagiert und heute auch unter uns ist, sehr dankbar – ist an die situations-aufmerksame Selbstwahrnehmung ebenso gebunden wie an die Fähigkeit zur Empathie, und damit an die Fähigkeit, die Perspektive der Anderen wahr- und einzunehmen.

Mit der Verleihung des Dorothee-Sölle-Preises an Herrn Dr. Boniface Mabanza Bambu ehren wir einen Menschen, der für uns in Europa zu einem Lehrer, und vielleicht sollte man diesen Begriff besser als „Befähiger“ übersetzen, also zu einem Befähiger dafür geworden ist, uns als Europäer und Erben einer gewalttätigen, blutigen und kulturzerstörenden Kolonialgeschichte in Afrika wahrzunehmen. Und dazu gehört, worauf Sie in Ihrer Arbeit in der Kirchlichen Arbeitsstelle südliches Afrika immer wieder nachdrücklich hinweisen, hinter den erschöpften Augen der geretteten und den erloschenen Augen der ertrunkenen Flüchtlinge die Lebensverhältnisse, die Staatszerstörungen und Ausplünderungen, die Diktaturen einheimischer Eliten und transnationaler Konzerne in den afrikanischen Ländern und die gnadenlosen machtpolitischen und religiösen Rivalitäten in den Bürgerkriegen in den Syrien und im Irak zu sehen.     
    
In ihrem zu Beginn dieses Jahres erschienen Buch: „Das Leben bejahen. Elemente einer Theologie des Lebens aus kongolesischer Perspektive“ (Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern 2015) folgen Sie diesem Prinzip einer genauen Wahrnehmung und Analyse der historischen Situation und der politischen Machtverhältnisse gerade dann, wenn es um die Frage nach den „Potentialen der afrikanischen Kultur“ geht: „Nur Ansätze mit einer verschärften Wahrnehmung der Realitäten können die Potentiale afrikanischer Kulturen für einen Paradigmenwechsel im Umgang der Menschen miteinander und mit der Natur entdecken oder neue beleben und theoretisch wie praktisch zur Entstehung der Rahmenbedingungen beitragen, welche die verborgenen und vernachlässigten Elemente der Kultur des Lebens zur Entfaltung bringen können“ (Das Leben bejahen. S. 130). Und sie fahren fort mit einem Gedanken, von dem ich glaube, dass er ein Schlüsselgedanke Ihres Buches ist: „Ein Engagement, das auf Befreiung abzielt, prüft jede Intervention von innen und von außen auf deren Tauglichkeit für die Ermöglichung einer selbstbestimmten Existenz in Würde.“ (a.a.O.) Wenn ich eine Bemerkung aus dem Gespräch mit Ihnen richtig deute, dann gehört dieser Kampf um eine auch kollektive politische „Existenz in Würde“ der Demokratischen Republik Kongo zu einem familiären Erbe. Ihr Vater, der Lehrer war, hat Ihnen, so berichteten Sie, immer wieder von Patrice Lumumba erzählt, der als erster gewählter Premierminister des unabhängig gewordenen Kongo nach wenigen Monaten ermordet worden ist.    

 „Mitten in einer Krise der Moral wie auch der politischen Handlungsfähigkeit (…) zeigt sich, dass der knappste Rohstoff in der heutigen Welt nicht Geld oder seltene Ressorucen wie Coltan aus dem Kongo, sondern die politische Fantasie ist.“ (S. 128) Boniface Mabanza verkörpert diese „politische Fantasie“; in seiner theoretischen und praktisch politischen Arbeit, in seinen Veröffentlichen, seinen Seminaren und Vorträgen.   

Mit dem Dorothee-Sölle-Preis ehren wir Sie und danken wir Ihnen für Ihre beharrliche und aufklärende, ihre widerständige und befreiende Arbeit in Deutschland und Afrika und wir hoffen und wünschen Ihnen, dass der mit dem Namen einer deutschen Befreiungstheologin verbundene Preis für Sie eine Kraftquelle der Ermutigung sein und bleiben möge.

Zur Übergabe des Preises möchte ich Ihnen noch, lieber Herr Mabanza Bambu, ein Gedicht von Dorothee Sölle mit auf den Weg geben:

Träume mich, Gott
Nicht du sollst meine Probleme lösen,
sondern ich deine, Gott der Asylanten.
Nicht du sollst die Hungrigen satt machen,
sondern ich soll deine Kinder behüten
vor dem Terror der Banken und der Militärs.
Nicht du sollst den Flüchtlingen Raum geben,
sondern ich soll dich aufnehmen,
schlecht versteckter Gott der Elenden.

Du hast mich geträumt Gott,
wie ich den aufrechten Gang übe
und niederknien lerne,
schöner als ich jetzt bin,
glücklicher als ich mich traue,
freier als bei uns erlaubt.

Hör nicht auf, mich zu träumen, Gott.
Ich will nicht aufhören, mich zu erinnern,
dass ich dein Baum bin,
gepflanzt an den Wasserbächen,
des Lebens.

 
(zit. nach Renate Wind, S. 11)