Dorothee Sölle-Preis für aufrechten Gang 2024

Dankesrede Carlotta Israel

Vielen herzlichen Dank! Vielen herzlichen Dank für diesen Preis, der mir eine Ehre ist, der mir ein enormer Ansporn ist, der mich anrührt. Vielen Dank an die vielen verschiedenen Kooperierenden und insbesondere das Ökumenische Netzwerk Initiative Kirche von unten! Vielen Dank auch Professorin Dr. Renate Jost, 1. Vorsitzende des Vereins zur Förderung Feministischer Theologie in Forschung und Lehre, dir liebe Renate für deine Laudatio. Zu hören, wie das eigene Leben und Arbeiten erzählt wird und du rote Fäden findest, wo ich nur Zufälle oder einzelne Momente erkenne, ist etwas ganz Besonderes. Danke!

Zugegebenermaßen hatte ich gedacht, es handele sich um einen merkwürdigen Internetstreich, als ich die Mail las, dass mir der Dorothee-Sölle-Preis verliehen werden solle. Ende Juni erhielt ich die Nachricht von Bernd Hans Göhrig und konnte es nicht glauben. Es ist mir eine besondere Freude, über diesen Preis in Verbindung mit Dorothee Sölle gestellt zu sein. Wann genau ich ihren Namen zum ersten Mal gehört habe, kann ich nicht rekonstruieren. Meine Mutter, die gerade dort mit meiner Tochter und meiner besten Schulfreundin zusammensitzt, ist Pastorin und im Pfarrhaus fallen viele große Namen. Darunter wird auch der von Dorothee Sölle gewesen sein. In meinem Theologiestudium, das ich nach einem Freiwilligendienst mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste vor 12 Jahren begann, fiel ihr Name nur in einer kirchengeschichtlichen Vorlesung und einem systematisch-theologischen Hauptseminar. Der Hamburger Dozent bat sogar darum, dass wir seinen Kollegen (!) nicht weitererzählen sollten, dass wir Ausschnitte aus „Mystik und Widerstand“ gelesen hätten. Es ist gut, dass sich am universitären Umgang mit Dorothee Sölle nun doch endlich einiges verändert hat. Dass sich 2022 in Köln ein Forschungsnetzwerk zu ihrer Theologie und ihrer Wirkungsgeschichte gegründet hat, das regelmäßig zu Tagungen einlädt, wirkt auf mich wie eine sehr späte Anerkennung ihres Werks.

In meinem Geburtsjahr erschien die Textsammlung „Mutanfälle“. Ich liebe das Wortspiel. „Mutanfälle“ spornt an und rüttelt wach. Im Untertitel heißen sie „Texte zum Umdenken“. Ganz kurz fasst Dorothee Sölle im Aufsatz „Zur Freiheit befreit – zum Schweigen verdammt. Das Bild der Frau im Christentum“ zusammen, was Feministische Theologie ausmacht. Darunter versteht sie eine – ich zitiere direkt – eine „Dekonstruktion herrschender Theologie und […eine] Rekonstruktion befreienden Glaubens“ (87f.). Dekonstruktion und Rekonstruktion. Dekonstruktion, also das Hinterfragen und bestenfalls Zerpflücken herrschender Theologie, nimmt auseinander, wie eine dominante Mainstream-Theologie entstanden ist. Dekonstruktion nimmt auseinander, wodurch sich Machtstrukturen bilden und aufrechterhalten. Theologie ist oft auch Malestream; Theologie von und für Männer. Theologie von und für Mehrfachprivilegierte. Dies zu erkennen, hilft bereits dabei, eine solche Theologie, die sich nicht ihrer Positionalität bewusst ist, zu überwinden. Eine Befreiung. Eine große Vision auch davon, dass das Herrschen an sich nicht das Non-Plus-Ultra sein kann und damit also auch G*tt nicht angemessen getroffen ist, wenn G*tt nur als weit entfernte*r Herrscher*in vorgestellt wird. Eine leidende, eine mitleidende G*tt. Darum ging es Dorothee Sölle. Und dass darin die Verheißung liegt, dass G*tt Elend kennt und mit aus der Welt schaffen möchte. Darin liegt die befreiende Rekonstruktion. Eine andere Welt, ein anderes Gemeinsam. Ohne Herrschen und Unterdrückung. G*tt anders nah. Zusammen anpacken.

Viele von Ihnen und Euch haben Dorothee Sölle gekannt und denken mit Dankbarkeit an verschiedene Begegnungen und Impulse, die sie in Euch gesetzt hat. Für mich sind neben ihren Texten und Video- bzw. Fotodokumentationen auch Eure Erzählungen ein Zugang zu ihr. Mein erster bewusster Kirchentag, den ich besucht habe, war der Ökumenische in Berlin 2003. Da war sie gerade verstorben. Wenn ich mich richtig erinnere, waren wir bei dem Kirchentag wie sonst auch bei einem Habakuk-Konzert, bei dem an sie gedacht wurde.

Ganz viel von dem, was Ihr berichtet, unterstreicht Dorothee Sölles zugewandte freundliche Art, die mit einer Analysepräzision und Gedankenschärfe zusammenkam. Ihr Leben scheint mir von unglaublich vielen „Mutanfällen“ geprägt. Akademische Karriere gegen alle Widerstände wagen, Kinder kriegen, Scheidung und eine neue Ehe. Dazu Reisen in Hunger- und Kriegsgebiete, Pendeln über den Atlantik, Demonstrationen bis zu Blockaden und Verurteilungen. Politisches Nachtgebet. Ökumene. Theologie nach Auschwitz. Tod-Gottes-Theologie. Pazifismus. Antikapitalismus. Feminismus. Neue Worte finden und Worte neu er/finden. Dorothee Sölle war auf der Suche nach einer besseren Welt. Und zwar nicht nur mit der Lupe, sondern mit hochgekrempelten Ärmeln. Ihre zupackende The*logie hat nicht Halt vor der Welt gemacht, sondern in ihre, unsere Welt hinein hat sie gesprochen, gedacht und gebetet. Nach wie vor ist das eine Theologie, die in Deutschland nicht den Mainstream erfasst hat, obwohl sie sicherlich mit die am meisten gelesene Theolog*in des 20. Jahrhunderts ist. Und leider ist das auch nicht wirklich verwunderlich. Ihre The*logie ist unbequem und biedert sich nicht an. Sie stiftet „Mutanfälle“.
Mut und Hoffnung. Beides bräuchten wir heute von ihr. Mut und Hoffnung, dass die Menschenfeindlichkeit nicht siegt, dass Grenzen wieder geöffnet werden, dass Hunger gestillt wird. Mut und Hoffnung dagegen anzugehen, dass einzelne Wenige Macht bündeln und empathielos ihren Status verteidigen. Mut und Hoffnung, dass Menschen teilen und nicht mehr davon ausgehen müssen oder ausgehen, dass sie zu kurz kommen. Und Mut und Hoffnung, dass sich auch Kirche und Theologie ändern.
Und dafür braucht es – ich zitiere noch einmal Dorothee Sölle – eine „Dekonstruktion herrschender Theologie und […eine] Rekonstruktion befreienden Glaubens“ (87f.). Wie herrscht wodurch welche Theologie, die nicht anpackt, die Tradition verwaltet, aber nicht auf ihre Relevanz für die Gegenwart hin befragt? Wie können wir die Herrschafts-Theologie der Wenigen in eine Partizipations-Theologie der Vielen verwandeln? Wenn wir konsequent in dieser Welt Theologie treiben und Kirche sind. Wir müssen uns unserer Privilegien bewusst werden und aus ihnen heraus tätig werden. Ich habe nichts gegen den*die frisch gewählte Kirchenpräsident*in einzuwenden, aber ist das die Form, in der Kirche am besten funktioniert: Mit einem Menschen an der Spitze? Und zwar mit einem Menschen, der*die bereits aus machtvollen Positionen in eine noch machtvollere kommt?
Sowohl Theologie als auch Kirche werden von Personen dominiert, die mehrfach privilegiert sind, sich dessen aber nur begrenzt bewusst sind oder wenig bis keine Taten daraus folgen lassen. Als privilegierte Personen in dieser Welt ist es unser aller Aufgabe Platz zu schaffen und Räume zu eröffnen, dass Machtverhältnisse nicht weiter so bestehen bleiben und Machstrukturen als solche benannt und davon ausgehend befreiend verändert werden können.

Jetzt braucht es Mut und Hoffnung, etwas zu wagen. Mut und Hoffnung aus bürokratischer Enge auszubrechen und Strukturen, die sich eigentlich schon überlebt haben, nicht mehr aufrecht zu erhalten. Mut, sich zu hinterfragen, und Hoffnung, mit G*tt in diese Welt gestellt zu sein. Mut, Platz zu machen, und Hoffnung auf den*die Nächste, dass sie es gut mit uns meinen.