Dorothee Sölle-Preis für aufrechten Gang 2024

Dankesrede Katharina von Kellenbach

Evangelische Akademie zu Berlin, Projekt Bildstörungen

Ich möchte mich ganz herzlich beim Ökumenischen Netzwerk „Initiative Kirche von unten“ bedanken, die mit diesem „Dorothee Sölle-Preis für Aufrechten Gang“ die Erinnerung an Dorothee Sölle wachhält. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Immer wieder fallen bedeutende Frauen aus der Geschichtsschreibung, auch wenn sie, wie Dorothe Sölle, zu Lebzeiten in der Öffentlichkeit bekannt, berühmt und berüchtigt waren. Ich bin besonders dankbar, heute hier gemeinsam mit Carlotta Israel zu stehen, die der Generation meiner Töchter angehört und einen Preis im Namen von Dorothee Sölle (1929-2003) anzunehmen, die der Generation meiner Mutter angehört. So werden Traditionen gemacht.

Traditionsbildung und Geschichtsschreibung waren Frauen aller Religionszugehörigkeiten  jahrhundertelang verwehrt. Deshalb fühlt es sich oft so an, als müssten Frauen in jeder Generation das Rad neu erfinden. Immer geht es um Ausnahmen und Einzelschicksale. Was uns fehlt sind Traditionsketten, in denen Wissen von einer Generation an die nächste Generation weitergegeben wird.

Zu meiner Studienzeit traf ich auf keine einzige theologische Professorin, weder in Westberlin noch in Göttingen oder an der Temple University in Philadelphia. Die Welt der Theologie erschien mir als exklusive Männerwelt. Erst in den USA traf ich auf Historikerinnen, besonders Prof. Ann Matter an der University of Pennsylvania und Prof. Shulamit Magnus am Reconstructionist Rabbinical College, die mich lehrten, in die Archive zu gehen, um nach den Lebensgeschichten und Schriftstücken christlicher und jüdischer Frauen zu suchen, die in den Bibliotheken und Geschichtsbüchern nicht zu finden waren. Wer feministische Theologie treiben will, muss sich mit den historischen Methoden der Archivforschung vertraut machen.

Dorothee Sölle war nicht meine theologische Lehrerin. Ich bin ihr zweimal begegnet, beide Male auf Straßenprotesten: in Mutlangen im Sommer 1983 bei den Sitzblockaden gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen, und dann auf einer Friedensdemonstration in Philadelphia, die von Aktion Sühnezeichen mitorganisiert worden war. Dorothee Sölle muss aus New York angereist sein, wo sie seit 1975 Systematische Theologie am Union Theological Seminary unterrichtete. Dort hat sie Studierende gefunden, und eine neue Generation feministischer Befreiungstheologinnen ausgebildet, darunter die feministische Ethikerin Christine Gudorf, die mujerista Theologin Ada Maria Isasi Diaz sowie meine katholische Kollegin im christlich-jüdischen Dialog Mary Boys.

Zu einer feministischen Theologin wurde Dorothee Sölle erst in den USA. In Deutschland wird sie eher mit politischer Theologie, der Auseinandersetzung mit Auschwitz, mit Befreiungstheologie und Friedensbewegung im Kontext von Vietnam und Nicaragua assoziiert.  Erst später hat sie sich auch mit der intersektionalen Verknüpfung dieser Themen mit Gendergerechtigkeit beschäftigt. Dabei hat sie auch immer wieder ihre eigene Ausgrenzung als theologisch hochqualifizierte Frau thematisiert, die in Deutschland keine Berufung auf eine Professur bekam.

In den USA fanden sich so viele deutsche Theologinnen in einer ähnlichen Situation wieder, dass Susanne Scholz und ich 1999 einen Sammelband mit dem prosaischen Titel „Zwischen-Räume. Deutsche feministische Theologinnen im Ausland“ (Lit Verlag) herausgegeben habe. Wir wollten zeigen, dass der niedrige Anteil von Frauen an deutschen theologischen Fachbereichen nicht mit mangelnder Qualifikation erklärt werden konnte. Mehrere Generationen deutscher Theologinnen wanderten aus und machten ihre Karrieren in den USA, Großbritannien, den Niederlanden, Japan, Ungarn, Chile und Lateinamerika.  So auch Dorothe Sölle, die in den USA keinesfalls vergessen ist.

Als Deutsche in den USA musste man immer auf die Frage „What did your daddy do during the war?“ vorbereitet sein. Und weil in meiner Familie, wie in den meisten deutschen Familien, das große Schweigen herrschte, bin ich in die Archive gegangen. Dort bin ich leider fündig geworden. Und damit waren meine theologischen Themen – Schuld und Versöhnung, Rechtfertigung und Verantwortung, Gnade und Gesetz – für die nächsten Jahrzehnte gesetzt. Im Gespräch mit jüdischen Überlebenden und deren Familien wollte ich wissen, ob und wie diese christlichen Glaubenslehren wahr und wirklich werden und wann sie zu schalen Floskeln verkümmern, mit denen Dialog und Begegnung mühsam werden. 

Für diese Suche nach einer theologischen Sprache jenseits traditioneller Floskeln gibt es kein besseres Beispiel, kein größeres Vorbild als Dorothe Sölle

Ich bin stolz und dankbar, diesen Preis in ihrem Namen annehmen zu dürfen.