"Sprich nicht darüber, meine Schwester!"

Bibelarbeit im Ökumenischen Zentrum der Reformgruppen beim Mannheimer Katholikentag in der Evangelischen Johanniskirche am 19. Mai 2012.

 

Mit Hilfe eines biblischen Textes eine Täterstrategie durchschauen: 2 Sam 13, 1-22

 

Biblische Texte sind Kampfplätze verschiedener Deutungen von Geschichte und gesellschaftlichen Verhältnissen. Mal tritt die eine, mal die andere Interpretationslinie in den Vordergrund; 2 Sam 3, 1-22 gehört zur davidkritischen Stimme der Bibel. Der Aufbau des Hauses und die wachsende Macht von David sind gekennzeichnet durch Intrigen und Gewalt. Frauen und Mädchen werden von ihm benutzt, um seinen Aufstieg abzusichern und seine Herrschaft zu repräsentieren. Familienpolitik ist Staatspolitik, Unterwerfung von Stämmen und Unterwerfung von Frauen gehören in der Davidkritik zusammen.  In diesem Umfeld von Gewaltakzeptanz und patriarchaler Grundkonstellation wird die Geschichte des Mädchens Tamar erzählt. Der Text ergreift durch seine Erzählweise Partei, er stellt sich auf die Seite des Opfers und lässt eine gute Analyse von Täterstrategien erkennen. Weil sich die Bedrohung wie ein Ring immer enger um das Mädchen schließt, wird der Text in einzelnen Abschnitten gelesen.

Dann erschließt sich die Täterstrategie genauer, es wird leichter erkennbar, wie Amnon seinen sexuellen Übergriff auf das wehrlose Mädchen Tamar, die Schwester seines Halbbruders Abschalom,  plant. Es empfiehlt sich, die Übersetzung der „Bibel in gerechter Sprache“ zugrunde zu legen.

 

Er liebte sie so, dass er ganz krank wurde, heißt es. Dass es keine Liebe ist, sondern Begehren und Besitzen wollen, wird sich später zeigen. Es ist auch der Reiz des Verbotenen, des Jungfräulichen, des Schwachen, der das Begehren beflügelt; der Text spielt mit dem Wort pl, das „unmöglich“, aber auch „wunderbar“ bedeuten kann.

 

Amnon sucht Rat bei einem „sehr klugen“ Mann, ein Männerbund wird geknüpft. Es ist gleichzeitig sein Versuch, einen Teil der Verantwortung am Plan an einen anderen abzugeben und andere in seine Strategie zu verstricken. Er braucht in diesem Stadium schon diese kleine Entlastung, um sich später selbst besser belügen zu können. Jonadab rät ihm, sich krank zu stellen; eine Idee, die schon längst da ist in Amnon selbst. Der Text erzählt sehr genau: Es ist eine Männerphantasie, in der die Augen schon zu greifenden Händen werden und die körperliche Nähe zum Mädchen Tamar schon spürbar wird. König David wird als befehlender Vater, Tamar als gehorsame Tochter in die Strategie eingebaut.

 

Amnons Phantasie entwickelt sich weiter, als er auf dem Krankenlager liegt, der Text wählt sexualisierte Sprache, um das zu verdeutlichen: „von ihrer Hand stärken“. Wohin die Hand des Mädchens fassen soll, ist kaum misszuverstehen. Um die Phantasie in Nettigkeit zu kleiden und dem Ganzen den Anstrich von echtem Gefühl zu geben, soll sie „Herzkuchen“ (heute würde man sagen: Lebkuchenherzen) backen als Krankenkost. Die Abhängigkeitsstrukturen sind aufgebaut, die ersten Schritte zur Mitbeteiligung anderer und vor allem des Opfers sind getan, der Plan kann aufgehen.

 

Tamar wird zunächst als braves, dienstbereites Mädchen eingeführt, das dem Bruder den besonderen Gefallen tut, eigenhändig die Krankenkost zu kneten (!). Teil einer Täterstrategie ist auch, dem Opfer Einzigartigkeit und Hochschätzung zu suggerieren.

 

Noch sind Zeugen im Raum, die durch Befehl entfernt werden, schließlich ist er der Sohn des Königs. Was er vorhat, braucht zwar ein vernebeltes Umfeld, verträgt aber keine direkten Zeugen. Der Ring legt sich ganz eng um das Geschehen, als Tamar genötigt wird, die Speise  in die Bettkammer Amons zu tragen. Wie zufällig ist die unmittelbare Nähe zum Opfer hergestellt, die Überrumpelung kann erfolgen.

 

Amnon versucht, die Zustimmung und eine Mitbeteiligung Tamars an der Tat zu bekommen, aber das gelingt ihm nicht. Sie wehrt den Zugriff ab und nennt die Sache beim Namen: Es ist ein Verbrechen. Er ist der Verbrecher, sie muss die Schande tragen. Sie ruft die Tradition Israels auf, die sie auf ihrer Seite weiß. Aber er hört nicht auf ihre Stimme – wie auch? Sie ist für ihn lediglich Objekt seiner Begierde, kein Mensch mit eigener Stimme – das ist die Erfahrung aller Vergewaltigungsopfer. Für die Beschreibung der Vergewaltigung kumuliert der hebräische Text drei starke Verben und betont damit den Charakter des Verbrechens.

 

Amnon hat bekommen, was er wollte – aber nicht wie er es wollte. Die Verweigerung der Zustimmung des Opfers kann ein Grund dafür sein, dass er anfängt, das Objekt seiner Tat zu hassen. Sie muss sofort entfernt werden, damit sie nicht wie ein lebender Vorwurf vor seinen Augen steht. Der Ton schlägt um, Tamar ist nicht länger mehr die umgarnte, liebe Schwester, sondern „die da“. Die Tür muss hinter ihr geschlossen werden, um eine Wand des Schweigens zwischen Täter und Opfer zu schieben.

 

Wieder agiert Tamar nicht als typisches Opfer: Sie schreit das Unrecht laut heraus auf der Straße und benutzt öffentlich alle symbolischen Handlungen, die anzeigen, was ihr angetan wurde: Zerreißen der Kleiderärmel, Asche und Hand auf den Kopf. Noch ist nicht die Scham vorherrschend, sondern Protest und Wut.

 

Ihr Protest wird sofort gebremst: Abschalom hat die Rolle, die es immer gibt im Umfeld sexualisierter Gewalt. Er scheint etwas geahnt zu haben, hat seine Schwester aber weder gewarnt noch geschützt. Ihm ist auch jetzt der Ruf der Familie wichtiger als der Schmerz der Schwester. Er bagatellisiert die Tat und befiehlt ihr zu schweigen: „Er ist ja dein Bruder. Nimm dir die Sache nicht so zu Herzen!“

 

Der Text ist bis zum Schluss einfühlsam und solidarisch auf Seiten des Opfers: „So blieb Tamar völlig zerstört im Haus ihres Bruders Abschalom wohnen.“ Wer den Text geschrieben hat, weiß um das Schicksal von Opfern und kennt die Folgen dieses Verbrechens.

 

Es muss erstaunen, dass wir in einem über 2500 Jahre alten Text ein solch klares Analyseinstrumentarium für Täterstrategien erkennen können. Die Kirche hat diese Tradition des Einfühlungsvermögens und der Erkenntnis nicht genutzt; ein weiteres Beispiel dafür, wie weit sie vom biblischen Text entfernt ist.