Einleitende Worte von Andreas Seiverth
Sehr verehrte Anwesende, liebe Schwestern und Brüder,
das Ökumenische Netzwerk Initiative Kirche von unten verleiht auf diesem 34. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Hamburg den Dorothee Sölle-Preis für aufrechten Gang. Das Leitungsteam der Initiative Kirche von unten, als dessen Sprecher ich heute diesen Preis übergeben darf, ehrt damit Frau Jutta Lehnert für ihr beharrliches, unerschrockenes und aufklärendes Engagement für die Opfer sexualisierter klerikaler Gewalt.
Jutta Lehnert war seit 1978 in der Katholischen Studierenden Jugend engagiert und liest früh auch Texte von Dorothee Sölle. Darunter könnte auch jenes schmale Bändchen mit dem Titel „Phantasie und Gehorsam. Überlegungen zu einer künftigen Ethik“ aus dem Jahr 1968 gewesen sein, das mir damals als Abiturient in mehrfacher Hinsicht die Augen geöffnet hat und in dem Dorothee Sölle schreibt: „Wer einen anderen als Mittel benutzt, der entwürdigt nicht nur diesen, sondern zugleich auch sich. Einen anderen als Sache behandelnd, wird er selber zur Sache, er knechtet sich in das Funktionieren der von ihm manipulierten Sache. Opfer verlangend, zerstört er die eigene Freiheit. Als Funktionär wird er Funktionierter. Andere entfremdend dem, was sie sein wollen und können, entfremdet er sich selbst, weil er sich auf Herrschaft, das heißt auf die Verwendung von Menschen als Mittel zu Zwecken, konzentriert. Dabei verliert er alle anderen eigenen Möglichkeiten.“ (S. 41)
„Aufrechter Gang“: Dieses Bild und diesen Begriff hat der Philosoph Ernst Bloch als die verkörperte menschliche Würde in einem seiner vielleicht besten Werke „Naturrecht und menschliche Würde“ entworfen und in diesem Geschichtsbuch des Kampfes um Menschenrecht und menschliche Würde anerkennend und würdigend aufrechte Männer beschrieben – und leider nur diese! Dieser Kampf ist nicht vorbei und wir haben keinen Grund anzunehmen, wir könnten darin nachlassen. Dorothee Sölle, unsere Glaubens- und Kirchenlehrerin, kann uns die Augen dafür öffnen, dass Gewalt gegen Menschen nicht nur die Unversehrtheit und Würde der zu Opfern gemachten Menschen verletzt und zerstört, sondern dass die Täter auch sich selbst entwürdigen.
Jutta Lehnert, seit 1989 Pastoralreferentin im Bistum Trier, arbeitet in einer Institution, die ihre Würde wie keine andere darin gründet, dass sie sich der Sendung Gottes, der missio dei, verdankt und dass sie die irdische Verkörperung Christi ist. Im Februar dieses Jahres hat Jutta Lehnert formuliert: „Die offizielle Kirche muss endlich erkennen, dass sich Christus im Gesicht der Opfer spiegelt. Ohne diese Erkenntnis verfehlt sie ihren Auftrag.“ Mit solchen klaren und einfachen Worten schafft sich auch Jutta Lehnert ein Leben „ständig in Schwierigkeiten“, wie Dorothee Sölle auf sich selbst bezogen schrieb. Als katholische Christin nannte sie einmal als Motiv ihrer Wider-Reden und Einsprüche auch gegen bischöfliche Redeverbote: „Damit aus dem heiligen Rock nicht der Mantel des Schweigens wird.“
In der Predigt, die Jutta Lehnert am 2. Ostersonntag zum Abschluss unserer diesjährigen Delegiertenversammlung der IKvu hielt, hat sie davon gesprochen, dass „Angst nicht nur die Beine, sondern auch das Gehirn (lähmen kann), diese Angst kann die Kreativität einfrieren und die Phantasie, den Widerstandsgeist und die Mitmenschlichkeit.“
Der Dorothee Sölle-Preis für aufrechten Gang möge Sie, liebe Frau Lehnert, darin bestärken, was sie als Anwältin der Opfer sexualisierter klerikaler Gewalt sind, was sie von der Kirche fordern und was wir alle von Ihnen lernen können: „ein hörendes Herz, ein aufmerksames Auge und ein mutiger Mund.“
Hamburg, den 3. Mai 2013