Kinder stärken und schützen: Ein Auftrag aus dem Evangelium
Geistlicher Impuls anläßlich der BDKJ-Versammlung im Bistum Trier, März 2010
von Jutta Lehnert
Kinder schützen, Kinder stärken – darum muss es gehen, darum ging es in der verbandlichen Jugendarbeit immer. Es ist viel getan worden, die Gefährdung von Kindern zu reduzieren, aber es fehlt auch noch vieles. Wir fangen gerade an zu erkennen, wo Kinder gedemütigt, misshandelt, übersehen und vergewaltigt werden. Immer klarer wird, was wir alles an Gewalt im Stillen geduldet haben. Die sexualisierte Gewalt im Raum der Kirche ist besonders schmerzhaft.
Denn uns als Kirche sind Schutz und Ermutigung der Kinder besonders aufgetragen, von unserer Tradition. Deshalb zunächst ein genauer Blick auf die Kinder der ersten Gemeinden, uns nahe gebracht vor allem durch das Matthäusevangelium.
Die Texte: Mt 18,1-5 und Mt 19,13-15
Auslegung:
Kinder sind zu allen Zeiten bedroht: Sie sind die schwächsten Opfer in Krieg und Wirtschaftskrisen, sie sind leichte Beute elterlicher Willkür und des Sadismus nahestehender Vertrauenspersonen, sie sind schweigende Lämmer bei sexualisierter Macht. Kinder waren in der Antike die Dienerinnen und Diener des Hauses; sie waren zuständig für alle schmutzigen Arbeiten; versklavte Kinder wurden in Kinderbordellen ausgebeutet. Es gibt Darstellungen von Kindern als Wasserträger, als Fußwäscher für die Gäste, als Marktverkäuferinnen, als Nackttänzerinnen…Das Wort „pais“ macht das deutlich: Es meint Kind/Knabe und Diener in einem.
Das Matthäusevangelium erzählt von einem ganz anderen Umgang mit Kindern: Das Kind wird von Jesus in die Mitte gestellt – an seinen Bedürfnissen soll sich die Gemeinde orientieren. Die ersten Gemeinden haben verlassene Kinder und hungernde Straßenkinder aufgenommen und sie versorgt, ihnen Schutz und ein Zuhause geboten. Aber in den Häusern der Gemeinde wurden sie nicht mehr in die übliche Rolle als Diener gezwungen. Im Gegenteil:
Das „Kind in der Mitte“ verweist vor allem darauf, dass gegenseitiges Dienen zur Aufgabe aller geworden ist; in der Gemeinde im Geist Jesu gibt es keine dienenden und ausgebeuteten Kinder mehr. Die Kinder werden zum Maßstab, an dem die Kirche messen kann, wie weit sie noch vom Reich Gottes entfernt ist.
Anscheinend gab es aber in der Gemeinde des Matthäus Einwände gegen diese Auffassung. Deshalb wird im Kap 19 im Anschluss an den ersten Text erzählt. dass Jesus den Kindern die Hände auflegt – zum Gebet und zum Segen; man kann auch sagen: Einmal, um sie zu berufen und einmal, um sie zu segnen. Kinder sind mit dieser Geste die Erben des Reiches Gottes; damit gehören sie zur Gemeinde und sind in die Nachfolge Jesu berufen.
Kinder sind in der Gemeinde Jüngerinnen und Jünger, denen man „auf Augenhöhe“ begegnet. Sie werden aufgenommen, versorgt und geschützt in Jesu Namen und Auftrag, wenn sie ihre Eltern verloren haben und hungernd auf der Straße umherirren. In den Gemeinden aber zählen sie als vollwertige Jüngerinnen und Jünger Jesu, berufen von Jesus selbst.
Im ersten Text sind die Kinder der Maßstab, an dem die Kirche sich messen lassen muss – im zweiten Text sind sie vollgültige Mitglieder der Kirche, so sagt uns das Evangelium.
Aber in unserer heutigen Kirche sind sie immer noch nicht als eigenständige Subjekte des Gottesreiches erkannt und anerkannt; wir haben sie leider zu „Objekten sakramentaler und seelsorglicher Heilsvermittlung gemacht“ (Hermann Häring); das muss sich ändern. Sie müssen unser Maßstab werden: Für pastorale und finanzielle Entscheidungen.
Es gab schon mal Zeiten der Kirchengeschichte, da war das anders:
Die alte Kirche hat an der biblischen Tradition des Kinderschutzes und Kinderernstnehmens lange festgehalten: Ihr ist es zu verdanken, dass im 4. Jhdt. Übergriffe auf Kinder, Kindesverschleppung und Kinderprostitution im römischen Reich unter Strafe gestellt wurden. Diese biblische und kirchengeschichtliche Tradition des Kinderschutzes ist in Erinnerung zu rufen, damit man die Tiefe des Widerspruchs ermessen kann, wenn es zu Übergriffen auf Kinder durch kirchliche Amtsträger kommt:
Das Vertrauen wird zerstört – in sich selbst, in andere Menschen und in Gott.
Das Geschehene trifft den Kern der christlichen Botschaft, das Evangelium selbst wird verletzt. Da hilft nur eines: Sich dieser Wahrheit zu stellen und nach den tieferen Gründen für diese Zerstörung zu fragen. Ein Grund ist sicher: Das gewalttätige, machtbesessene Verhalten Einzelner hat sich ungut mit falsch verstandener Macht und der Angst von Verantwortlichen verknüpft – ein Grund mehr, endlich mit einem guten, demokratischen Miteinander in der Kirche ernst zu machen. Die christliche Tradition des „Umgangs auf Augenhöhe“ zwischen Kindern, Frauen und Männern verpflichtet gerade uns dazu, die wir als Verbände beiden Traditionen verbunden sind: Der Bibel und der Demokratie.
Vor diesem Hintergrund sind alle Tendenzen, die dem Volk-Gottes-Charakter der Kirche zuwiderlaufen, eine weitere Bedrohung für ihre schwächsten und schützenswertesten Mitglieder: Die Kinder.