DOROTHEE SÖLLE-PREIS 2024
Daniela Kalscheuer
Laudatio für Katharina von Kellenbach
Sehr geehrtes Publikum,
heute habe ich die große Ehre und Freude die Laudatio auf Katharina von Kellenbach zu halten, die heute den „Dorothee -Sölle-Preis für aufrechten Gang“ erhält.
Und ja, ich denke, Dorothee Sölle wäre mit der Wahl der diesjährigen Preisträgerin mehr als zufrieden, sind doch auch die Parallelen dieser beiden großen Theologinnen durchaus frappierend. Abgesehen davon, dass beide entscheidende Jahre in den USA verbracht haben, Dorothee Sölle als Professorin für systematische Theologie am Union Theological Seminary in New York, Katharina von Kellenbach lehrte am St. Mary’s College of Maryland in Maryland und war Gastprofessorin für Christlich-Jüdische Beziehungen am Boston College in Boston, weisen beide Frauen zusätzliche
Gemeinsamkeiten auf.
Was sie vor allem eint ist, sie beide übten und üben den aufrechten Gang. Sie teilen den Mut, das eigene anzusehen, kritisch zu hinterfragen und neue Antworten zu finden, auch wenn diese nicht angenehm sind.
Beide haben Sie, dass darf man glaube ich so formulieren, als ein Lebensthema, die Frage nach dem Umgang mit Schuld und Verantwortung als Christ, aber auch als Angehörige eines „Tätervolkes“, welches den Holocaust zu verantworten hat. „Kein Himmel kann Auschwitz wiedergutmachen“1, schrieb Sölle. In dieser Schuldstarre blieb Sölle aber nicht stehen, sondern forderte hieraus Konsequenzen, für das eigene Sein, für den eigenen Glauben. In ihrem Werk „Stellvertretung“ (1965) entwickelte sie daher das Konzept, dass Christsein bedeutet, stellvertretend für die Leidenden zu handeln und sich aktiv für Gerechtigkeit und Frieden einzusetzen.
Um dies zu tun braucht es einen aufrechten Gang.
Als Grundlage für diesen von Sölle formulierten Anspruch, ergänzt Katharina von Kellenbach, reicht aber die alleinige theologische Reflexion nicht aus. Sondern hieraus erwächst eine ethische Verpflichtung, sich aktiv, gerade hier in Deutschland, mit den Konsequenzen des nationalsozialistischen Erbes auseinanderzusetzen, vor allem auch mit dem eigenen.
Denn die eigentlichen Täter konnten dies oft nicht.
Eindrucksvoll hat Sie dies in Ihrem Buch „The Mark of Cain: Guilt and Denial in the Post-War Lives of Nazi Perpetrators“2 dargelegt. Sie zeigt hier auf, wie sich die Täter ihrer Verantwortung entzogen. Dies taten sie, indem sie die individuelle Schuld in ein Kollektiv auslagerten. Das eigene Handeln, die eigene Verantwortung wird kleiner, wenn sie Teil eines größeren Ganzen ist. Aber, und das ist das Fatale daran, eine echte Versöhnung und Vergebung wird hierdurch zumindest für einen Christen unmöglich. Denn die christliche Vergebung setzt voraus, die eigene, individuelle Schuld zu bekennen, zu bereuen, wie auch den Willen zu Wiedergutmachung. Ein Kollektiv kann diese Aufgabe einem nicht abnehmen.
Die Tätergeneration entwickelte, so Kellenbachs präziser Analyse nach, oftmals gar nicht erst überhaupt ein Schuldgefühl. Die meisten von ihnen starben, ohne ihre Taten zu bereuen, noch akzeptierten sie den Anspruch auf Wiedergutmachung. Die bundesrepublikanische Nachkriegsjustiz, und in Teilen die Gesellschaft, forderte eine solche Auseinandersetzung auch nicht von ihnen ein. Die Kirchen leisteten dazu ebenso ihren Beitrag, indem sie die Täter zu integrieren suchten und ihnen eine, wie Bonhoeffer es ausdrückte, „billige Gnade“3 gewährten, die eher unterstellte, als dass es Realität war, dass ein Anerkennen der Verbrechen und die Reue hierüber bei den Tätern vorhanden sei. Dies hatte verheerende Folgen für die Opfer. Ein Blick in die Restitutionsakten der fünfziger Jahre, jede neu angezettelte Schlussstrichdebatte zeigte, dass selbst nach dem Grauen der Shoah die Opfer weiter gedemütigt, ihr Leiden nicht anerkannt wurde. In den Täterfamilien herrschte im besten Fall Schweigen über die Taten der Täter, im schlimmsten Fall wurden sie relativiert oder gar gerechtfertigt und das eigene Leid dagegen aufgewogen. Versöhnung, gar Heilung, ist unter diesen Vorzeichen nicht zu haben, weder für die Opfer noch die Täter, und belastet den jüdisch-christlichen Dialog bis heute.
Man mag einwenden, dass das Grauen der Shoah zu groß ist, dass die Last der eigenen Verantwortung nicht tragbar ist, dass Verdrängen hier die einzige Möglichkeit zum Überleben der eigenen Taten sei, und Gott in seiner Gnade es schon richten wird. Doch zeigt Katharina von Kellenbach am Beispiel von Kain, dass die göttliche Gnade eben nicht billig zu haben ist, und schließt sich damit der Kritik Bonhoeffers wie auch Dorothee Sölles an.
In Ihrer Interpretation der biblischen Kainsgeschichte ermöglicht gerade die Offenlegung von Kains Schuld ihm mit einem Mal den Neuanfang. Seine Schuld wird durch das Mal nicht verdeckt und zwingt Kain dazu, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Damit ist es eben keine Bestrafung für ein Verbrechen, welches an sich nicht zu sühnen ist. Es ist in ihren Worten „ein Zeichen der Gnade, weil es keine Absolution und kein Vergessen verspricht, sondern ermöglicht, die Schuld offen zu (er)tragen. Kain wächst in seine Schuld hinein und lernt sich selbst neu verstehen.“4 Kain kommt auf Grund des Mals ins Handeln, es zwingt ihn Verantwortung für seine Schuld zu übernehmen und daran zu wachsen.
Die Schuld, so Kellenbach weiter „ist eine Bürde, von der man nicht entlastet werden sollte“5. Aber „wer eine Bürde gut trägt, baut Kraft auf, was dazu beiträgt, den Respekt Anderer neu oder wieder zu gewinnen und Selbstbewusstsein neu oder wieder zu entwickeln“6.
Was bedeutet dies für die Post-Shoah-Gesellschaft? Die Verbrechen der NS-Gesellschaft liegen wie ein Kainsmal offen, sie lassen sich nicht leugnen und werden auch nicht geleugnet, zumindest in der offiziellen Erinnerungskultur. Der offiziellen Erinnerungskultur steht aber die familiäre entgegen, und hier hält die Amnesie nach wie vor in Deutschland an, wie Harald Welzer in seinem Klassiker „Opa war kein Nazi“7 beschrieb und was die jährliche Memo Studie der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) bestätigt. Je länger die Verbrechen des Holocausts zurückliegen, umso mehr wird die Schuld klein geredet, die eigene Familienverstrickung geleugnet. Gerade einmal 10,5 Prozent der Befragten ordneten 2020 ihre Familiengeschichte auf der Täterseite ein.8 Zwar lehnten 2022, 55,7 % der Befragten eine Schlussstrich-Debatte ab,9 und so wird das Kainsmal der Schuld zwar nicht geleugnet, aber in ein Kollektiv ausgelagert. Aber göttliche Gnade kann nicht einem Kollektiv gewährt werden, sie bleibt eine individuelle Angelegenheit. Wir verwehren uns selbst durch diese Auslagerung als Individuen die Chance auf Gnade, auf Aussöhnung und Heilung.
Schlimmer noch. Man kann den multiplen Krisen unserer Zeit für das Erstarken rechtspopulistischer und menschenfeindlicher Haltungen durchaus die Verantwortung übertragen. Aber wo individuelle Schuld weiter geleugnet oder relativiert wird, bleibt das Einfallstor für menschenfeindliche Einstellungen offen. Wo das antisemitische Tantchen beim Familientreffen entschuldigt wird, die Schuld nicht benannt werden kann, bleibt sie auch ungesühnt und vorhanden. Wir verbleiben in der Schuldstarre oder im Rechtfertigungsmodus und kommen nicht, wie Sölle es forderte, in die Verantwortungsübernahme.
Um ins Handeln zu kommen, um Verantwortung zu übernehmen, fordert daher Katharina von Kellenbach in ihren Schriften ein verändertes Bußverständnis: Sie fordert uns auf, unsere Schuld an[zu]nehmen, sie als Kreuz wahrzunehmen, dass es zu tragen gilt. Was einschüchternd klingt, kann aber eben in ihren Worten zur Stärkung werden: „Eine christliche Vergebung, die von den Gläubigen verlangt, dieses Kreuz zu tragen, kann den aufrechten Gang lehren“10.
Das Annehmen der Schuld, diese klar zu benennen, sie zu (er)tragen, bietet einen Ausweg aus der Schuldstarre und verhilft uns ins Handeln und letztlich zur Gnade. Selbst Heilung und echte Versöhnung werden durch eine Bußpraxis, so Kellenbach, „die dem steten Abbau ungerechter Privilegien und der Heilung zerrütteter Beziehungen verpflichtet ist“, möglich und greifbar. Dabei geht es eben nicht, so von Kellenbach weiter, „um eine einmalige Vergebung, sondern um eine langfristige moralische Verpflichtung, die im Fall von Systemunrecht, wie Holocaust, Sklaverei oder Kolonialherrschaft auch über die Zeitzeugengeneration hinaus reicht und Kinder und Kindeskinder miteinschließt“11.
Im Tragen der Schuld und der Verantwortung erlernen wir den aufrechten Gang, der uns im Sinne Dorothee Sölles ins Handeln bringt.
Dass dies nicht nur ein abstraktes Konstrukt ist beweist das persönliche Zeugnis von Katharina. Im wissenschaftlichen Kontext ungewöhnlich und mutig, hat sie selbst ihr Kreuz auf sich genommen und sich intensiv mit ihrer Familientätergeschichte beschäftigt und weist auf diese immer wieder transparent hin.
Dabei beweist sie mit ihrer schier unermüdlichen Energie, dass man dies ertragen und dass es einen zum Handeln bringen kann. Die Bürde ihrer Geschichte dient ihr als Antrieb, Verantwortung zu übernehmen, Gewalt anzuklagen, sei es im Kontext sexualisierter Gewalt oder im Aufzeigen des Fortbestehens antisemitischer Stereotype im christlichen Kontext in ihrem Projekt „Bildstörungen“12, indem sie sich für eine Antisemitismuskritische Bibelauslegung stark macht. In ihrem Buch „Anti-Judaism in Feminist Religious Writings“13 hat sie untersucht, wie tief antijüdische Vorurteile in die Schriften einiger feministischer Theologinnen eingewoben sind, und bietet eine dringend benötigte kritische Reflexion über die ethischen Implikationen solcher Vorurteile. Diese kritische Auseinandersetzung zeigt erneut ihre Bereitschaft, auch innerhalb der eigenen Tradition schwierige Fragen zu stellen und sich mit den oft unbequemen Wahrheiten auseinanderzusetzen.
Liebe Katharina, ich möchte dir dafür danken, dass du mit deinen Schriften und Taten in einer Schärfe und Deutlichkeit aufzeigst, dass Gnade eben nicht billig zu haben ist und auch nicht erstrebenswert ist, da wir hier letztlich damit die Chance auf Heilung und Vergebung versagen. Du lebst und zeigst es jeden Tag, dass die Last schwer, uns letztlich aber den aufrechten Gang lehrt.
Damit bist du mit Sicherheit die richtige Preisträgerin und eine geistige Schwester von Dorothee Sölle.
- Sölle, Dorothee: Leiden, München, Stuttgart, Kreuz Verlag, 1973, S. 183.
- von Kellenbach, Katharina: Mark of Cain: Guilt and Denial in the Post-War Lives of Nazi Perpetrator, Oxford University Press, 2013
- Bonhoeffer, Dietrich: Nachfolge, München 1937, in: Bonhoeffer, Dietrich: Werke Bd. 4, München, Gütersloher Verlagshaus, 1994, S. 29-43.
- von Kellenbach, Katharina: Kainsmal. Eine Kritik der christlichen Schuldvergebung. In: FAMA 3, Feministisch theologische Zeitschrift 2011, S.
3-5, hier S. 5 - Ebd.
- Ebd.
- Welzer, Harald: "Opa war kein Nazi". Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a. M., Fischer Taschenbuchverlag, 2002
- Vgl. hierzu: https://www.stiftung-evz.de/assets/4_Service/Infothek/Publikationen/EVZ_Studie_MEMO_2020_
dt_Endfassung.pdf - Vgl. hierzu: https://www.stiftung-evz.de/assets/1_Was_wir_f%C3%B6rdern/Bilden/Bilden_fuer_lebendiges_Erinnern/
MEMO_Studie/MEMO_5_2022/evz_brosch_memo_2022_de_final.pdf - von Kellenbach, Katharina: Kainsmal. Eine Kritik der christlichen Schuldvergebung. In: FAMA 3, Feministisch theologische Zeitschrift 2011,
S. 3-5, hier S. 5 - Ebd.
- https://www.eaberlin.de/themen/projekte/bildstoerungen/
- von Kellenbach, Katharina: Anti-Judaism in Feminist Religious Writings, Scholars Press, 1994