"Sag´ denen, dass man Kinder nicht so behandeln darf ...!"

Predigt zum 11. September 2005

 

Die Liebe Gottes und die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Hl. Geistes sei mit uns allen.

 

11. September - Vier Jahre ist es her, dass das Thema Terror die Welt so sehr einholte, dass sie danach verändert aufwachte. Ich saß mit Kindern in meinem Wohnzimmer, die Bilder von den zusammenstürzenden Türmen erreichten uns. Die Kinder hatten Angst. „Gibt es Krieg?“ fragten sie und ich hatte im Moment keine Antwort. Wir öffneten die Kirche für Andacht Stille und Kerzen und Gebet. Wie antwortet man Kindern auf Bilder des Terrors?

 

Nach diesem Tag war alles anders.

Gesellschaftlich holten uns die Fragen der Sicherheit ein. Ihr wurden ganze Lebensbereiche untergeordnet. Und doch haben die vier Jahre auch gezeigt: Es gibt keine totale Sicherheit. Für den Flüchtlingsbereich haben sich in dieser Zeit alle Vorzeichen geändert. Galten vorher noch Ansätze in der Migrationspolitik als vertretbar, die von Zuwanderung als positivem Element redeten, die den demografischen Wandel errechneten und eine reale Integration geboten sahen, machte Europa die Schotten dicht. Und obwohl die Terrorverdächtigen in Hamburg einen offiziellen Aufenthalt hatten und studierten, waren es jetzt plötzlich die Geduldeten, die abgelehnten Asylbewerber, die unter Generalverdacht gerieten und zu Opfern wurden.

Das neue Zuwanderungsgesetz sollte ein Paradigmenwechsel sein. Es sollte ein Perspektivwechsel stattfinden, ein Ja zur offenen aufnehmenden und aktiv integrierenden, ja akzeptierenden Gesellschaft. Die Geduldeten sollten in Aufenthaltstitel kommen, wenn auch nicht alle, so doch aber viele. Das zustande gekommene Zuwanderungsgesetz, von vielen von uns kritisch begleitet, hat nicht gehalten, was es versprochen hat. Mit zäher Lobbyarbeit der Kirchen wurde gerettet, was noch zu retten war. Aber es ist und bleibt ein Zuwanderungsbegrenzungsgesetz mit halbherziger erstmals gesetzlich verankerter Integration - und das viel zu spät und bei leeren Haushaltskassen. Und während den Kindern mit Migrationshintergrund in den Schulen alle Förderung gestrichen wird, müssen die neu Ankommenden und die sogenannten Bestandsflüchtlinge zu Sprachkursen, zu denen sie längst wollten, aber – wie jetzt immer noch die Geduldeten - nicht durften. Ansonsten dient dieses Gesetz der Terrorabwehr - schon auf Verdacht darf abgeschoben werden, von rechtsstaatlichen Grundsätzen wie Beweisen haben wir uns weit entfernt.

 

Paradigmenwechsel für die langjährig geduldeten Familien war versprochen worden – doch da die meisten theoretisch ausreisen können, kann man sie auch weiterhin dulden. Und nach dem neuen Gesetz, wo alles viel einfacher gehen sollte, kann man dann ihnen auch die Arbeitserlaubnisse entziehen und sie mürbe machen und zu einer Rückkehr bewegen, die in keiner Weise noch freiwillig genannt werden kann. Humanitärer Aufenthalt ist zwar vorgesehen, aber so eingeschränkt von den meisten Bundesländern, dass es leider nichts wird mit der Humanität.

Von der Ankunft an waren und sind Asylbewerber unter Verdacht geraten.  Die Erstanhörungen beim Bundesamt leiden unter dieser Abwehrhaltung. Nicht Schutz gewährende Behörde, sondern Demontieren der Glaubwürdigkeit der Schutzsuchenden ist Programm. Das sage nicht ich, sondern alle flüchtlingspolitischen Organisationen, unter anderem auch das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland. Was wir brauchen, ist eine Bleiberechtsregelung für lange hier unter uns lebende Menschen. Das sage nicht ich, sondern ein breites Bündnis, aus Flüchtlingsorganisationen und Kirche. Von 16.000 ankommenden Asylsuchenden dieses Jahr, in dem eine neue liberalere Haltung vorherrschen sollte, sind nur 0,9 Prozent für glaubwürdig befunden worden. Bei 25.000 Abschiebungen pro Jahr, treiben wir mehr Menschen hinaus als wir herein lassen. Immer mit dem Argument, wir hätten so viele aufgenommen. Es müsste jetzt auch mal Schluss sein. Und überhaupt: Flüchtlinge sind auf Zeit da, nach einiger Zeit sollen sie auch wieder gehen. Doch wie lange ist lange genug, wenn es um Kinder geht? Vertreiben wir sie nicht aus ihrer Heimat in ein ihnen fremdes Land?

 

„Sag denen, dass man Kinder so nicht behandeln darf…!“ - Der das zu mir sagt, ist neun Jahre alt. Er sitzt mir in einer Beratungsstelle in Istanbul gegenüber. Vor knapp drei Wochen wurde er mit seiner Mutter und zwei seiner drei Geschwister aus Deutschland abgeschoben. Nachts um 4 Uhr wurden sie alle in ihrer Unterkunft in Norderstedt geweckt. Die Mutter, schwersttraumatisiert, war nicht in der Lage, die nötigen Sachen zu packen. Der Vater drohte, sich mit einem Messer das Leben zu nehmen. Die Kinder bekamen alles mit. Der Kleine ging in die dritte Klasse, seine Klassenkameraden vermissen ihn. In der Türkei wird er es schwer haben. Er spricht die türkische Sprache nicht ausreichend, denn zu Hause wurde kurdisch gesprochen. Und trotz seines ungesicherten Aufenthalts wurde ihm keine Möglichkeit geboten, türkisch in Schrift und Sprache an deutschen Schulen zu lernen. Nun hat er Albträume nachts. Seine Mutter spricht gar nicht mehr. Sie ist in anderen Welten gefangen durch ihre Erlebnisse. Auf der Fahrt zum Flughafen hat sie um sich geschlagen, auch die Kinder. Sie ist sehr krank, das weiß er.

 

„Sag den Polizisten, dass man Kinder so nicht behandeln darf!“ bittet er mich. Familientrennung, Abschiebung von schwer traumatisierten Elternteilen mit Kindern, Kinder ohne schulische Perspektive – wer erlebt die Abschiebungen aus Kinderaugen mit? Nein! So kann man nicht mit Menschen, mit hier geborenen Kindern umgehen. Darin sind sich alle Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Lobbyorganisationen einig. Die Menschen sollten nach einer bestimmten Zeit ein Bleiberecht haben. Man kann nicht nach Jahren in Deutschland, nach einem Leben in einer Duldung, einem Leben in einer nicht enden wollenden Warteschleife, ohne Recht auf Ausbildung, Arbeit, ausreichende Gesundheitsversorgung, ohne Möglichkeit den Landkreis zu verlassen, ohne Recht auf freie Wohnungswahl – man kann nicht so in Angst gehalten und krank gemacht, dann nach Jahren mürbe gemacht abgeschoben werden.

 

Klagelieder 3, 22-26; 31-32

Die Güte des Herrn ist´s, dass wir nicht gar aus sind; seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende. Sondern sie ist alle Morgen neu und Deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und der Seele, die nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen.

Denn der Herr verstößt nicht ewiglich; sondern er betrübt wohl, und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.

 

Alte Lieder erzählen von dem Leid der Flüchtenden, der Entwurzelten und Vertriebenen. Menschheitsgeschichte in Psalmen und Liedern verfasst. In Gesetzestexten wird zum Schutz der Fremden gemahnt. Und immer auch, weil das Gottesbild dahinter eines ist, das diesen Schutz mit garantiert. Ihr wart selbst Fremdlinge in Ägypten, - das ist die kollektive Erinnerung. In die einzustimmen, macht das Bekenntnis zu diesem Gott aus. Ein Gott, der selbst immer wieder Fremdheit annimmt, fremd wird, der sich nie vereinnahmen lässt, dessen Gottesbild Freiheit und Fremdheit bedingt. Und der zur bedingungslosen Solidarität ruft. Ihr seid wie die. Du bist wie er. Erinner´ Dich!

Wir sind nicht gar aus. Wir sind da. Wir leben in einer bedrohten Wirklichkeit, in einer bedrohten Welt. Bedroht von Umweltkatastrophen genauso wie von Terror, von privaten Leiderfahrungen und  Abschiedserfahrungen wie von gesellschaftlichen Problemen wie Arbeitslosigkeit. Uns droht dieses Fremdsein, diese Fluchterfahrung genauso. Wie wollen wir dann behandelt werden? Das ist der Grundsatz der Bibel. Ihr habt mich aufgenommen als ich fremd war.

 

Gott ist auch immer der fremde Gott. Hinter diesem fremden, ja oft verborgenen Gott steht der liebende, der Geborgenheit stiftende, der Güte und Barmherzigkeit garantierende Gott, der sich erweisen wird, wenn wir geduldig bleiben in unserer Haltung. Zugegeben: Geduld ist nichts was mich als erstes auszeichnet. Ich bin nicht geduldig und in dieser Arbeit ist es auch oft gut, gerade nicht geduldig zu sein. Aber ausharrend und zäh, das müssen wir sein. Und darauf vertrauen können, dass wir Recht haben. Recht haben, es zu wagen. Kirchenasyl zum Beispiel. Menschen zuzuhören, sie anzuhören, ihnen auf Augenhöhe begegnen, sie nicht als Fälle zu behandeln, sondern als Menschen, denen wir Respekt schulden.

Wir werden mutiger werden müssen. Das Bleiberecht für die jetzt Geduldeten müssen wir weiter vertreten mit phantasievollen und bunten Aktionen. Mit Kindergärten und Schulklassen uns verbünden, mit Lehrerverbänden und Gewerkschaften, mit anderen Kirchen und Religionsverbänden. Machen wir uns auf. Und: Kirchenasyl bleibt der Raum und der Ort, um Zeit zu gewinnen, Menschen  zu stützen und ihnen bei einem Asylfolgeantrag oder vor Gericht Gehör zu verschaffen. Wir bürgen für diese Menschen, die bei uns Schutz suchen. Wir stehen ein für ihre Glaubwürdigkeit, bezeugen die Wahrheit an ihrer Seite. Gegen alle Angst und Bürokratisierung der Verfahren, gegen polizeiliche Ermittlung und Abschiebungsdrohungen an.

 

Und machen wir uns nichts vor: wir tun dies nicht um der Flüchtlinge willen. Nicht weil wir so selbstlos wären: wir tun es um unseretwillen. Um unserer Hoffnung willen, wegen unseres Bildes von Gerechtigkeit und Frieden, gewaltlosem gastfreundlichem Miteinander, vom Aushalten von fremden Kulturen mitten unter uns – der Menschenrechte wegen um unseretwillen. Um unseretwillen und um Gottes Willen.

 

Du bist wie er. Du bist wie sie. Erinner Dich. Halte das aus. Denn darin erweist sich die Barmherzigkeit und die Güte Gottes. Dass wir es aushalten, die eigene Fremdheit, die eigene Angst und uns annehmen lernen. Machen wir diese Gesellschaft etwas liebenswerter. Sie zerstört ihre menschlichen Grundlagen, wenn sie weiter wegsieht bei Abschiebungen, Familientrennungen, bei der schlechten Behandlung von Kindern. Machen wir uns auf. Es geht um uns.

 

Und der Friede Gottes der höher ist als unsere Vernunft, halte unseren Verstand wach und unsere Hoffnung groß.

 

Fanny Dethloff ist Flüchtlingsbeauftragte der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche und Vorsitzende der Ökumenischen BAG Asyl in der Kirche