Vier Thesen zum aufrechten Gang

Vier Thesen zum aufrechten Gang

Lutz van Dijk

1.
Die Traditionen eines Bewußtseins von den Anstrengungen vorhergehender Generationen für aufrechten Gang sind in unserem Land weitgehend verschüttet.

Dies beruht zum einen auf bewußter Ignoranz derjenigen, die als herrschende Strömungen die Änderungen der formalen Strukturen der politischen Systeme relativ unbeschadet, zum Teil auch gestärkt, überdauert haben und den Vergleich zu den selbst abgegebenen Distanzierungen oder gar Schilderungen eigener „Widerstandsakte“ scheuen, weil er zu ihren Ungunsten ausfallen würde. Diese Tradition wird von einem nicht unwesentlichen Teil der nachfolgenden Generation mit neuer, scheinbar unbelasteter Energie fortgesetzt.

Daß Erfahrungen aufrechten Denkens und Handelns „versinken“, hängt zusätzlich mit Modernisierungsschüben innerhalb unserer Gesellschaft zusammen, deren Herrschaftsstruktur sich, statt wie früher autoritär-hierarchisch, nun zunehmend diffus-undurchschaubar auf die Mehrheit ihrer Mitglieder auswirkt. Dabei ist die wachsende Geschichtslosigkeit nur eine Kategorie innerhalb des gesellschaftlichen Prozesses einer Isolation des einzelnen.

2.
Unter einem Lernen von aufrechtem Gang könnte die Bindung der Anstrengungen gesellschaftlicher Qualifikationen wie „Einfühlung“ und „Verantwortungsübernahme“ an die sinnliche Erkenntnis des einzelnen verstanden werden: Er darf von anderen nicht mehr erwarten, als er selbst einzubringen in der Lage ist, und er muß Geduld und Sensibilität für das Prozeßhafte jeder Bemühung um aufrechten Gang bei sich und anderen aufbringen.

Eine nüchterne Analyse der eigenen Möglichkeiten erleichtert eine ebenso nüchterne Auseinandersetzung mit den politischen Strukturen, die dies bislang erschweren oder verhindern und schafft Raum für Entwürfe von Bedingungen, die dies erleichtern und stärken können.

Die Erfahrung des aufrechten Gangs ist nicht ohne die Bereitschaft zu psychischer Mehrarbeit, zum Teil zum Ertragen großer psychischer Spannungszustände zu erhalten – die Glückserfahrung einer gestärkten Identität allerdings auch nicht.

3.
Orientierende Merkmale während des Prozesses einer Stärkung von Fähigkeiten zum aufrechten Gang sind:

  • Empathie: die Fähigkeit zum Einfühlen in andere; das Aushalten auch von verunsichernden Erfahrungen des „Andersseins“ anderer Menschen, ohne auf eine wie auch immer geartete eigene Höherwertigkeit setzen zu müssen; das Zulassen von Erfahrungen kultureller Vielfalt als tatsächlichem menschlichen Reichtum;

  • Identität: die Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme für eigenes Denken und Handeln; das rationale Erkennen unterschiedlicher persönlicher und gesellschaftlicher Interessen und die bewußte Entscheidung für ein parteiliches Engagement gegen Unterdrückung, Isolation und Ungerechtigkeiten.

Jedes Bewußtsein für aufrechten Gang geht von dem Menschen als einem zerbrechlichen, irrenden und für Versuchungen anfälligen Wesen aus. Es vermeidet jede Illusion der Schaffung eines „ganz neuen Menschen“, so wie es andererseits zum Ausmessen seiner faktischen Möglichkeiten im Rahmen des individuell Vorstellbaren herausfordert.

4.
Stärkende Erfahrungen auf dem Weg zum aufrechten Gang sind weniger durch Belehrungen zu erlangen als durch Selbstbildungsprozesse des einzelnen und seine dadurch gestärkten Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Die Erfahrung (vor-)gelebten aufrechten Gangs anderer in realen Konflikten ist eine ungleich größere Ermutigung und Anregung für noch Unsichere als ein Appell dazu, der sich stets fragen lassen muß, ob in der zuerst moralisch begründeten Aufforderung nicht der Ersatz für die eigene Unterlassung verborgen ist.


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„Können wir das lernen, was Ernst Bloch den »aufrechten Gang« nannte?“, so fragte Lutz van Dijk im Hinblick auf seine Untersuchung über oppositionelles Verhalten von Lehrerinnen und Lehrern im NS-Staat aus dem Jahr 1988. Unter welchen Bedingungen kann eine solche Haltung gelingen? Wie können wir dazu ermutigt werden? Und wie können wir von denen lernen, die sich vor uns darum bemüht haben?

Die „Vier Thesen zum aufrechten Gang“ sind sein Versuch einer Antwort in pointierter Form. Lutz van Dijk stellt sie uns als Erläuterung für den Namen des Dorothee Sölle-Preises zur Verfügung, wofür wir ihm herzlich danken!

Lutz van Dijk (Dick), Hrsg.
Lehreropposition im NS-Staat. Biographische Berichte über den „aufrechten Gang“ Frankfurt am Main 1990